Wie bereits in den vergangenen Jahren werden wir auch am diesjährigen 9. November mit der Initiative in Cannstatt der Pogromnacht 1938 und ihren Opfern gedenken. Mit mehreren Beiträgen startet die Gedenkkundgebung auf dem Cannstatter Marktplatz um 18 Uhr. Im Anschluss ziehen wir gemeinsam zum Platz der ehemaligen Synagoge in der König-Karl-Straße um Nelken und Kränze niederzulegen. Dieses Jahr kann auch wieder im Anschluss eine Veranstaltung stattfinden; unter dem Titel „Antisemitismus – Von der Ausgrenzung zum Völkermord“ wird Ulrich Schneider aus seinem Buch lesen und dazu gibt es Yidishe Lider mit Albert Kunze (Gesang) und
Vladimir Romanov (Klavier). Um die Veranstaltung im Bezirksrathaus zu organisieren bedarf es einer Anmeldung über den Blog. Dort findet ihr weitere Informationen:
Aufruf der Initiative:
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen im gesamten Deutschen Reich sowie in Österreich und in der Tschechoslowakei. Angezündet von SA und SS, organisiert, vorbereitet und angeleitet von Partei, Regierung und Behörden des faschistischen Staates. Am nächsten Tag wurden mehr als 7.000 jüdische Geschäfte geplündert, zehntausende jüdische Menschen verhaftet und über 100 ermordet. Die Polizei verschleppte 26.000 jüdische Männer aus ganz Deutschland vor allem in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald.
Die Pogromnacht in Stuttgart
In Stuttgart legte der Branddirektor, in zivil und ausgestattet mit einem Eimer Waschbenzin, selbst den Brand; in Cannstatt war es der Leiter der Feuerwache. Fast alle männlichen Stuttgarter Juden zwischen 18 und 65 Jahren wurden verhaftet, auch Kranke und Jugendliche unter 18 Jahren. Das jüdische Ehepaar Karl und Emilie Oppenheimer wohnte in der Daimlerstraße 56, nur 100 m von der Cannstatter Synagoge entfernt. Nach der Pogromnacht erließ der NS-Staat die „Judenvermögensabgabe“, mit der die jüdischen Menschen gezwungen wurden, den Schaden des Staatsterrors in der Pogromnacht selbst zu bezahlen. Allein den Oppenheimers wurden mit dieser Zwangsmaßnahme 7.800.- Reichsmark geraubt, die in Wirklichkeit von den Faschisten zur Vorbereitung ihrer Kriege benötigt wurden. Am 26. April 1942 wurden sie vom Stuttgarter Nordbahnhof in überfüllten Waggons ins KZ Theresienstadt deportiert und mussten für ihr „Altersghetto“ Theresienstadt 2.000.- Reichsmark Eintrittsgeld zahlen und für fünf Jahre im Voraus 180.- Reichsmark Pflegegeld je Monat. Ein halbes Jahr später starb Karl Oppenheimer, seine Frau wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und überlebte dies nicht.
Rechter Terror durch den Staat
Der vom faschistischen Staatsapparat gelenkte Terror gegen jüdische Mitmenschen und deren Einrichtungen führte innerhalb der Bevölkerung weder zu nennenswertem Widerstand noch zu euphorischem Zuspruch. Der Großteil der hier lebenden Menschen nahm die Geschehnisse apathisch zur Kenntnis, hatten doch fünf Jahre „Nationalsozialismus“ bereits Stück für Stück die Ideologie der „Volksgemeinschaft“ vorangetrieben. Diese legitimiert das Ausmerzen aller „Volksfeinde“ und suggeriert zugleich, dass die Klassenwidersprüche innerhalb der „Volksgemeinschaft“ überwunden seien.
Die örtlichen Feuerwehren und Polizeidienststellen schützten fast überall befehlsgemäß nur die Nachbargebäude vor dem Übergreifen der gelegten Brände und ermöglichten so die ungehinderte Zerstörung und Plünderung. Lediglich sehr wenige Fälle von Zivilcourage sind bekannt. In Berlin rettete der Vorsteher des Polizeireviers Berlin-Mitte die Synagoge an der Oranienburger Straße, indem er mit ein paar Beamten die Brandstifter der SA verjagte und die Feuerwehr holte, die den Brand dann löschte. In ländlicheren Regionen und kleinen Ortschaften, aber auch in Kleinund Mittelstädten beteiligten sich Menschen aus der Nachbarschaft oftmals an Hetzgesängen, Zerstörungen und Plünderungen. Die vom Staat organisierten Novemberpogrome bereiteten den Boden für weitere antisemitische Gesetze und gelten als Vorstufe zum Holocaust. Am 1. Dezember 1941, also 3 Jahre nach den Novemberpogromen begann die erste Deportation von Jüdinnen und Juden aus Stuttgart nach Riga, die dort in einem Waldstück
erschossen wurden.
Der Holocaust begann in Osteuropa
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 verfolgte der deutsche Faschismus sein Hauptkriegsziel: Die Vernichtung des Sozialismus (Nazi-Jargon: „jüdischer Bolschewismus“) und die Eroberung riesiger Gebiete in Osteuropa bis zum Ural als neues Kolonialreich („Lebensraum im Osten“). Diese rassistische Lebensraumideologie diente dazu, die Versklavung der Völker der Sowjetunion zu rechtfertigen, als Sprungbrett für die Weltherrschaft. Es begann durch den deutschen Militär- und Polizeiapparat eine nie zuvor existierende Barbarei. Neben dem Kommissarbefehl, der die Anweisung enthielt alle Politkommissare der Roten Armee direkt zu erschießen, begingen
Wehrmacht, SS & SD sowie Gestapo weitere Massaker und andere Verbrechen an der Zivilbevölkerung.
Besonders hart und akribisch gingen die sogenannten Einsatzgruppen gegen die jüdische Bevölkerung in den neu eroberten Gebieten vor. In jeder eroberten Stadt sowie in jedem eroberten Dorf wurden Jüdinnen und Juden gesucht, aufgespürt, zusammengetrieben und erschossen. Ein bekanntes Massaker fand in der Nähe von Kiew in der Schlucht Babyn Jar statt. Diese systematische Ermordung gipfelte in der Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz, das für die industriemäßige Vernichtung von Menschen steht, wie es sie nur durch den deutschen Faschismus gab. Letztendlich fand das Morden jedoch nicht erst in Auschwitz statt, sondern war sichtbar in der Pogromnacht und wurde mit den Deportationen aus dem gesamten Reichsgebiet sowie aus allen besetzten Gebieten unübersehbar.
Sicherlich war nicht allen, zumindest nicht von Beginn an bewusst, worin diese staatliche Verfolgung ihrer jüdischen Mitmenschen endete. Doch spätestens mit den Novemberpogromen (oder den Deportationen) wurde die lebensbedrohliche Gefahr für Jüdinnen und Juden für alle offensichtlich. Nur wenige Menschen hatten den Mut zu widersprechen, einzugreifen oder zu helfen.Am 27.01.1945 wurden mit der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee die Verbrechen der Nazis offengelegt.
Heute: Rechter Terror vom Staat geduldet
Der beschönigende Begriff „Kristallnacht“ steht wohl sinnbildhaft für die Aufarbeitung des deutschen Faschismus bis heute. Er steht für Verharmlosung, Verschweigen und Relativierung. Also genau die Dinge, die der Staatsapparat bei rechtem Terror heutzutage noch anwendet. Sowohl die Geheimdienste als auch Polizei, Justiz und Bundeswehr wurden von Altnazis aufgebaut und haben ihre „nationalsozialistische“ Ideologie an die neuen Kameraden weitergegeben. Und heute? Ständig werden Nazi-Chatgruppen in
Polizei- und Bundeswehrkreisen offengelegt. Massenhaft verschwinden Waffen und Munition. Es gibt wieder Todeslisten auf denen Aktive aus der linken, migrantischen und antifaschistischen Bewegung gelistet sind. UND immer wieder rassistische Übergriffe und rechten Terror. All das wird entweder totgeschwiegen, als Einzelfall bagatellisiert und oftmals gedeckt und oft genug die Aufklärung behindert – die Verflechtungen von staatlichen Institutionen und Nazis sind offensichtlich.
Gegen das Vergessen – Kommt am 9. November zur Gedenkkundgebung
Der Gedenktag an die Pogromnacht 1938 ist für uns Anlass und Auftrag zu verhindern, dass die Zivilgesellschaft in ihrer Mehrheit bei antisemitischen und rassistischen Angriffen wiederholt verstummt oder zustimmt. Um den zunehmenden Antisemitismus und Rassismus, sowie rechten Terror und dessen staatliche Duldung zu stoppen, bedarf es der Zusammenarbeit und entschlossenen Gegenwehr aller. Für uns gilt getreu dem Schwur von Buchenwald: Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
Dieser Aufruf wird unterstützt von:
Antifaschistisches Aktionsbündnis Stuttgart (AABS) / Antifaschistische Aktion (Aufbau) Stuttgart / „Arbeit Zukunft“ Stuttgart / DIDF, Freundschafts- und Solidaritätsverein Stuttgart e.V. / DIDF – Jugend Stuttgart / DIE LINKE OV Bad Cannstatt, Münster, Mühlhausen / DGB Stadtverband Stuttgart / DGB-Jugend Region Nordwürttemberg / DIE
LINKE Stuttgart / DKP (Deutsche Kommunistische Partei) Stuttgart / FrAKTION (Linke, SÖS, Piraten, Tierschutzpartei) Bad Cannstatt / Freier Chor Stuttgart / Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba Regionalgruppe Stuttgart / Friedenstreff Cannstatt / Friedenstreff Stuttgart Nord / Groll, Renate und Manfred, Gerlingen / GRÜNE JUGEND Stuttgart / Hofmann, Reiner / Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e.V. / Jusos Stuttgart / Linksjugend [’solid] Stuttgart / Ostendobenbleiber Stuttgart / Revolutionäre Aktion Stuttgart (RAS) / SÖS – Stuttgart Ökologisch Sozial / SDAJ (Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend) Stuttgart / Stadtjugendring Stuttgart / Bündnis Stuttgart gegen Rechts / ver.di Bezirk Stuttgart / VVN-BdA, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten / Verein Zukunftswerkstatt e.V., Zuffenhausen / VÖS – Vaihingen Ökologisch Sozial / Waldheim Stuttgart e.V. / Clara Zetkin Haus; Waldheim Gaisburg e.V. / Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften / Zusammen Kämpfen [Stuttgart]
Quelle: https://pogromnachtcannstatt.wordpress.com/
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