Vor der Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Türkei warnen Berliner Regierungsberater vor einer etwaigen Abkehr des Landes vom Westen und dringen auf Zugeständnisse gegenüber Ankara. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan führe die Türkei immer enger an die Seite Russlands, heißt es in einer aktuellen Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP); türkische Think-Tanks stellten bereits die Mitgliedschaft in der NATO zur Debatte, einige sprächen sich sogar offen gegen sie aus. Ankaras Trennung von dem Kriegsbündnis und dem Westen müsse unbedingt verhindert werden, schreibt die SWP und rät zu Empfänglichkeit für Wünsche der türkischen Regierung. Tatsächlich hat das Berliner Establishment kaum je einen Zweifel daran gelassen, dass es die Kooperation mit der Türkei nicht nur wegen ökonomischer, sondern vor allem auch wegen strategischer Vorteile bei der Einflusssicherung im Mittleren Osten sowie in Zentralasien aufrechterhalten will; das Land könne als „Landbrücke“ in die dortigen Rohstoffregionen dienen, heißt. Bereits im Herbst hieß es in einem Kommentar einer führenden deutschen Tageszeitung, die Zusammenarbeit mit der Türkei müsse selbst dann gewahrt werden, wenn in dem Land „dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert“ würden.

Ankaras Kehrtwende

Bereits jetzt konstatiert die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) eine deutlich wachsende Distanz zwischen der Türkei und den Mächten Westeuropas und Nordamerikas. Exemplarisch nachvollziehen lässt sich dies, wie die Stiftung schreibt, an der Syrien-Politik der Türkei. Von 2011 an hatte die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan – die Unruhen in der arabischen Welt nutzend – versucht, ihren dortigen Einfluss durch intensive Unterstützung für die Muslimbruderschaft [1] und ihr nahestehende Kräfte auszuweiten. Der Versuch scheiterte: In Ägypten verdrängte das Militär die Muslimbrüder mit einem gewaltsamen Staatsstreich von der Macht; in Tunesien war der islamistischen Al Nahda-Partei, wie die SWP schreibt, „nur ein vorübergehender Wahlerfolg beschieden“ [2]; Libyen, wo Ankara ebenfalls auf islamistische Kräfte gesetzt hatte, ist zerfallen; in Syrien, wo die Türkei islamistische Milizen beinahe jeglicher Couleur förderte – dies meist an der Seite des Westens -, ist der Sturz von Staatspräsident Bashar al Assad ausgeblieben. Im zweiten Halbjahr 2016 hat Ankara die Konsequenzen aus dem Scheitern gezogen und sich, um wenigstens ein Minimalziel zu erreichen und das Entstehen eines kompakten kurdisch beherrschten Gebietes in Nordsyrien zu verhindern, partiell auf die Seite Russlands geschlagen. Damit hat es seine Umsturzpläne für Syrien zwar wohl endgültig preisgegeben, sich aber immerhin – wie die Syrien-Friedensverhandlungen in Astana zeigten [3] – gemeinsam mit Moskau und Teheran eine Art exklusiven Garantiemachtstatus gesichert. Das könne durchaus als „Erfolg“ gewertet werden, urteilt die SWP.

Raus aus der NATO?

Allerdings begnügt sich Ankara, wie die SWP weiter feststellt, nicht damit, nur in Syrien mit Moskau zu kooperieren; es weitet die Zusammenarbeit auf weitere Felder aus. So strebt es den Ausbau der Rüstungskooperation an und zieht den Kauf des russischen S-400-Luftabwehrsystems anstelle vergleichbaren NATO-Geräts in Betracht. Das S-400-System gilt als hochmodern und ist in der Lage, nicht nur Flugzeuge, sondern auch ballistische Raketen und Marschflugkörper abzufangen. Darüber hinaus wollten Ankara und Moskau „einen gemeinsamen Mechanismus für militärische und Geheimdienstkooperation einführen“, berichtet die SWP.[4] Befeuert werde die türkisch-russische Zusammenarbeit nicht nur dadurch, dass Staatspräsident Erdoğan westliche Umsturzversuche fürchte, heißt es weiter bei der Stiftung, sondern auch dadurch, dass die USA im Krieg gegen den IS bis heute gemeinsam mit syrisch-kurdischen Kämpfern operierten. Erdoğan hat inzwischen mehrmals einen Beitritt der Türkei zur Shanghai Cooperation Organisation (SCO) in Aussicht gestellt, einem Zusammenschluss Russlands, Chinas und vier zentralasiatischer Staaten [5], der vor allem auf sicherheitspolitischem Feld tätig ist und bereits gemeinsame Militärmanöver durchgeführt hat. Inzwischen werde in Ankara sogar die Mitgliedschaft in der NATO in Frage gestellt, berichtet die SWP: „Türkische Think-Tanks deklinieren das Für und Wider eines Verbleibs in der Nato durch, und manche optieren klar für den Austritt“.

„Ein geopolitisches Faktum“

Aus Sicht des deutschen Establishments wäre eine endgültige Abkehr der Türkei vom Westen ein schwerer Schlag. Das Land ist nicht nur ein bedeutender Wirtschaftspartner der Bundesrepublik, ist auf der Rangliste der deutschen Exportziele außerhalb der EU mittlerweile an Russland vorbei auf Rang vier geklettert und Standort für mehr als 6.500 Unternehmen in deutschem Besitz oder mit deutscher Kapitalbeteiligung. Es besitzt darüber hinaus erhebliche geostrategische Bedeutung. Mit Blick auf die Tatsache, dass die Türkei sich geographisch als Landbrücke zu den Rohstoffquellen des Nahen und Mittleren Ostens sowie Zentralasiens anbietet, hat der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, letztes Jahr geurteilt: „Die Bedeutung der Türkei zur Diversifizierung unserer Energieversorgung und als Transitland für Energielieferungen aus dem Iran, dem Irak oder dem Kaspischen Raum wird zunehmen.“[6] Ankara sei außerdem ein „zentraler außenpolitischer Akteur“ in der „konfliktreichen Region zwischen dem Schwarzen Meer, dem Persischen Golf und dem Mittelmeer“, erläuterte Hardt; diese Einschätzung sei lediglich die „Anerkennung eines geopolitischen Faktums“. In der Tat hat der deutsche Staat seit der Ära der Bagdad-Bahn immer wieder die Zusammenarbeit zunächst mit dem Osmanischen Reich, dann mit der Türkei gesucht, um seine Macht bis in den Mittleren Osten und nach Zentralasien auszudehnen. Ginge Ankara auf Distanz zu Berlin, dann ginge nicht nur die Option auf gemeinsame Einflussprojekte verloren; eine engere Bindung der Türkei an Russland würde zudem die Stellung des russischen Rivalen in Mittelost und insbesondere auch am Schwarzen Meer deutlich stärken. Die Folge wäre ein herber Positionsverlust für die Bundesrepublik.

Zugeständnisse

Entsprechend dringt die SWP auf Zugeständnisse Berlins und des Westens gegenüber Ankara. Zwar könne sich die Türkei einen Bruch mit dem Westen ökonomisch eigentlich gar nicht leisten, urteilt die Stiftung: So hätten die EU-Länder im Jahr 2015 rund 44 Prozent der türkischen Exporte gekauft und 57,6 Prozent der direkten Auslandsinvestitionen in der Türkei gestellt. Auch sei „aus strategischer Perspektive“ unklar, „was die Türkei ohne den Rückhalt der Nato russischer Machtprojektion im Schwarzen Meer, im Kaukasus und im Nahen Osten entgegensetzen will“: „Ein Bruch mit dem Westen“ sei deshalb nicht nur wirtschaftlich, sondern auch strategisch für Ankara nachteilig.[7] „Doch kann sich der Westen nicht darauf verlassen, dass eine solche Sicht der türkischen Interessen in Ankara geteilt wird“, räumt die SWP ein: „Um die Türkei im Westen zu halten“, solle die EU ihr sicherheitshalber „entgegenkommen, zum Beispiel bei den Nachverhandlungen zur Zollunion und bei der Visafreiheit für türkische Staatsbürger“. Auch sei die US-Unterstützung für die syrisch-kurdischen Kämpfer zu beenden, heißt es weiter: „Die Nato muss sich … in Syrien aus der Klemme zwischen Türken und Kurden befreien, in die Washington das Bündnis manövriert hat.“

Dialog um jeden Preis

Entsprechend sind vom Besuch der deutschen Kanzlerin in Ankara vor allem Bemühungen um die Stabilisierung, wenn möglich sogar den Ausbau der Zusammenarbeit zu erwarten – unbeschadet der Tatsache, dass die Türkei unter Erdoğan die Repression gegen tatsächliche oder auch nur vermeintliche Oppositionelle ungebrochen verschärft und darüber hinaus inzwischen den Übergang in eine Präsidialdiktatur vorbereitet. „Ganz gleich, wie die Türkei sich entwickelt, ist es … im europäischen Interesse, im Gespräch zu bleiben“, hieß es schon im November 2016 in einem Leitkommentar einer führenden deutschen Tageszeitung: „Selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten.“[8] Das schließt zwar scheinbare Absetzbewegungen gegenüber Ankaras Repression nicht aus, beschränkt sie aber auf die rein verbale Ebene.