„Ich protestiere wegen der ganzen Ungerechtigkeit, wegen der Gewalt und weil unsere Stimme nie gehört wird“ erklärt eine Demonstrantin gegenüber dem online-magazin politika.cl. Die Proteste in Chile, die sich Anfang der Woche noch gegen die Erhöhung der Ticketpreise in der U-Bahn der Hauptstadt Santiagos gerichtet hatten, haben sich auf das ganze Land ausgeweitet. Am vergangenen Freitag rief die Regierung den Ausnahmezustand aus und entsandte das Militär in die Straßen. Nachdem damit keine Ende der Proteste erreicht werden konnte, wurde nun in den Städten Santiago und Valparaíso eine Ausgangssperre verhängt. Mittlerweile wurde der Ausnahmezustand auf die Städte La Serena, Coquimbo, Concepción und Rancagua ausgeweitet. Die Proteste haben sich zu einem landesweiten Aufstand entwickelt. Die Ausgangssperre gilt von 22 bis 7 Uhr. Der Ausnahmezustand sei ausgerufen worden, um “die öffentliche Ordnung und die Ruhe der Einwohner Santiagos sicherzustellen und sowohl privates als auch öffentliches Eigentum zu schützen”, wie der eigens ernannte verantwortliche General Javier Iturriaga del Campo erklärte.
Trotz der immer massiveren Repression gehen die Proteste weiter, mittlerweile allerdings nicht mehr nur gegen die Erhöhung der Ticketpreise, sondern sich gegen das neoliberale Modell im allgemeinen und die Ausgangssperre im besonderen richten.
Die Ausgangssperre, die zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur 1990 verhängt wurde, ist die nächste hilflose Eskalationsstufe der Regierung nach einer Woche von Protesten. Angefangen mit zivilem Ungehorsam von Schüleri*innen, die gegen die hohen ÖPNV-Preise demonstrierten, indem sie kollektiv schwarz fuhren, weiteten sich die Proteste angetrieben von in Videos dokumentierter Polizeigewalt gegen die Schüler*innen immer weiter aus. Auf Videos ist zu sehen, wie Schülerinnen von Polizisten niedergeschossen werden. In der Nacht von Freitag auf Samstag wurden in ganz Santiago Barrikaden gebaut, mindestens fünf Busse wurden angezündet und zahlreiche Polizeifahrzeuge zerstört. Ein Anwohner des Zentrum Santiagos erklärte gegenüber dem lcm: „Es geht alles in Flammen auf. Die Militärs sind in den Straßen. Das ganze Haus ist voll mit Tränengas.“
Trotz der Ausgangssperre gingen die Proteste in der Nacht von Samstag auf Sonntag unvermindert weiter. Das Militär, das ausgestattet mit Kriegswaffen in den Straßen ist, hält die Bevölkerung nicht davon ab zu demonstrieren. Die ganze Nacht über gab es cazerolazos, eine Protestform aus der Miliätrdiktatur, bei der mit Kochlöffeln auf Topfdeckel geklopft wird. In Santiago und der Hafenstadt Valparaíso kam es zu Plünderungen. In sämtlichen größeren Städten des Landes, Iquique, Antofagasta, La Serena, Temuco, Valdivia und Rancagua wurden Barrikaden gebaut. Selbst in kleinen Dörfern, wie Neltume gibt es Demos vor den örtlichen Polizeistationen. Es wurden mindestens 300 Menschen verhaftet. Auf sozialen Medien wird mittlerweile dazu aufgerufen Blut zu spenden, da es viele Verletzte gibt, da sowohl Polizei, als auch das Militär scharf schießen. Die Regierung kündigte an, weitere 1.500 Soldaten in die Gebiete in denen der Ausnahmezustand gilt zu entsenden. In Santiago sind mindestens drei Personen in einem brennenden Supermarkt ums Leben gekommen. Unbestätigten Berichten zufolge sind weitere Demonstrant*innen nach Schussverletzungen gestorben.
„Wir haben hier im Viertel Widerstand geleistet, alle sind an allen Ecken von den Vierteln und bauen Barrikaden, die Atmosphäre ist etwas anderes. Es ist verrückt, das Militär ist in den Straßen und die Bullen sind maximal gewalttätig. Ich habe Angst“, erklärte ein weiterer Anwohner Santiagos gegenüber dem lcm. Vom ursprünglichen Grund der Proteste, der Erhöhung der Ticketpreise in Santiago, ist mittlerweile immer weniger zu hören. Die Proteste sind Ausdruck einer über Jahre angewachsenen Wut über ein Leben in Armut, alltägliche Polizeigewalt und die Schamlosigkeit der herrschenden Klasse. Diese scheint mittlerweile das Muffensausen zu bekommen. Die Regierung um den Unternehmer und Dollarmilliardär Sebastián Piñera hat angekündigt, die Erhöhung der Ticketpreise zurückzunehmen. Er habe „mit Demut die Stimme seiner Landsleute“ gehört. Angesichts der bisher verfolgten Eskalationsstrategie, ist es unwahrscheinlich, dass sich die Proteste mit diesen Brotkrumen befrieden lassen. Sowohl der Studierendendachverband CONFECH als auch verschiedene Gewerkschaften haben für Montag zum Generalstreik aufgerufen.
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