Anfang 2013 sollen bis zu 400 Bundeswehrsoldaten mit zwei Patriot-Raketenabwehrstaffeln in die Türkei verlegt werden. Am kommenden Freitag wird der Bundestag über das entsprechende Mandat abstimmen. Die Stationierung der Abwehrraketen könnten der Vorbereitung eines Luftkrieges gegen Syrien dienen, der angesichts der bisherigen Haltung Chinas und Rußlands im UN-Sicherheitsrat völkerrechtlich nicht gedeckt wäre. Militärische Einsätze gegen souveräne Staaten sind stets auch ein Angriff auf das Völkerrecht. Zum Thema dokumentiert junge Welt einen leicht gekürzten Vortrag, den Norman Paech am 1. Dezember auf dem Kasseler Friedensforum gehalten hat.
Die Mehrheit der kommentierenden Zeitgenossen ist davon überzeugt, daß wir uns in einer geschichtlichen Phase des Übergangs in ein neues Weltordnungssystem befinden, von dem allerdings unklar bleibt, welche Gestalt es annehmen wird. Was die Beobachter unbeachtet ihrer Herkunft und ihrer Positionen aber in der Regel eint, ist die Überzeugung von der Kriegsträchtigkeit dessen, was allgemein als Globalisierung bezeichnet wird. Dieser Begriff steht allmählich nicht mehr nur für die Verheißungen weltweit positiver ökonomischer und sozialer Entwicklungen, sondern mehr und mehr auch für die Erwartung von der Unvermeidlichkeit kommender Kriege. Diese Erwartung wird nicht nur durch die tägliche Kriegsberichterstattung aus allen vier Kontinenten untermauert, sondern auch durch die ausdrückliche Programmatik der neuesten Militärstrategien der NATO vom April 1999 und der USA vom September 2002 und März 2006 bestätigt. Selbst die Europäische Union hat sich einen mächtigen militärischen Arm zugelegt, der laut »Europäischer Sicherheitsstrategie« von 2003 in Zukunft weltweite militärische »Verteidigungsaufgaben« übernehmen soll.
In diesem Dokument, dem sogenannten Solana-Papier, das der Europäische Rat im Dezember 2003 verabschiedet hatte, heißt es: »Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. (…) Daher müssen wir bereit sein, vor Ausbruch einer Krise zu handeln. Konflikten und Bedrohungen kann nicht früh genug vorgebeugt werden.«
Die Perspektive auf den Krieg hat sich verändert. Dessen absolutes Verbot, das die Charta der Vereinten Nationen festschreibt, ist unter den Bedingungen der Globalisierungskämpfe vielfältig relativiert und angegriffen worden. Es geht um die Erweiterung des Legitimationsrahmens für den Krieg als Mittel der Politik. Dies geschieht zunächst dadurch, daß der Blick auf die neuen Formen der Gewalt und des Kriegsgeschehens gerichtet wird: »Internationaler Terrorismus«, »Privatisierung der Gewalt«, »Staatszerfallskriege«, »asymmetrische Kriege«, »Bandenkriege und Warlords«, »low intensity warfare«, »ethnische Säuberungen« »Kindersoldaten«, »Söldnerfirmen«, sind nur einige der Schlagwörter, die eine Veränderung anzeigen sollen. Sie werden im Anschluß an die britische Politikwissenschaftlerin Mary Kaldor heute allgemein unter dem Begriff der »neuen Kriege«1 gefaßt und vor allem als neue Herausforderung des Westens gesehen, die dessen militärische Antwort notwendig macht. Das lenkt zunächst davon ab, daß fast alle Formen aus den klassischen Staatenkriegen weitgehend bekannt sind: Partisanenkrieg, Geiselerschießungen, ethnische Säuberungen, Genozid und Söldnereinsatz. Nur die Unmittelbarkeit und mediale Präsenz eines Terroraktes wie die Zerstörung des World Trade Centers durch zivile Flugzeuge läßt uns die Ungeheuerlichkeit und Barbarei von Terrorakten wie die Abwürfe der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki vergessen, und die Massaker an der Zivilbevölkerung in Zentralafrika überlagern die Barbarei der Massaker in Zentraleuropa im Zweiten Weltkrieg wie die von Oradour, Lidice und Distomo.

Wilhelminische Denkmuster

Es spricht vieles für die These, daß auch in Zukunft kaum ein lokaler Krieg ohne direkte oder indirekte Beteiligung der großen NATO-Mächte stattfinden wird. Darüber hinaus geben die modernen Strategiepapiere von USA, NATO und EU deutliche Hinweise auf militärische Interventionen in jenen Regionen, in denen die Staaten ihre zentralen ökonomischen und politischen Interessen gefährdet sehen. In den Worten ihrer akademischen Apologeten, wie zum Beispiel Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der Humboldt-Universität in Berlin, handelt es sich dabei um die »Herstellung von imperialer Ordnung zwecks Absicherung von Wohlstandszonen an den Rändern.«2 Entsprechend der militärischen Prägung jeder imperialen Ordnung wird der Krieg als unvermeidbares Mittel der Absicherung eingeplant: »Der Zwang zu einer zunehmenden Politik der Intervention ist auch die Reaktion auf die Konsequenzen der Globalisierung an der Peripherie. Es bleibt die Frage, ob es gelingt, die zentralen Bereiche in die Wohlstandszonen zu inkludieren, also in der Fläche Ordnung herzustellen, und den Rest zu exkludieren. Es steht aber außer Frage, daß an diesen neuen ›imperialen Barbarengrenzen‹ der Krieg endemisch wird, nämlich in Form von Pazifizierungskrieg aus dem Zentrum in die Peripherie hinein und in die Form von Verwüstungskrieg aus der Peripherie ins Zentrum.«
Als Proben dieses »Pazifizierungskrieges« dürfen wir die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan, den Irak und Libyen begreifen, die nur notdürftig mit der Anrufung der Menschenrechte und dem Kampf gegen Terror und Massenvernichtungsmitteln legitimiert werden konnten. Der »Verwüstungskrieg aus der Peripherie« meint die verschiedenen Terroranschläge seit dem 11.9.2001, wobei der Begriff absichtsvoll über das jeweilige Ausmaß der Verwüstungen beider Kriegsarten hinwegtäuscht. Ja, wir werden aufgefordert, »die Kategorie des Imperiums in Zukunft (…) als eine alternative Ordnungskategorie des Politischen, nämlich als Alternative zur Form des Territorialstaates« zu akzeptieren. Das derart installierte imperiale Gewaltverhältnis muß deshalb als »Friedensgarant«, als »Aufseher über politische, kulturelle Werte und Absicherer großräumiger Handelsbeziehungen und Wirtschaftsstrukturen« gepriesen werden, wobei dem Autor offensichtlich sein Rückfall in wilhelminische Denkmuster verborgen bleibt.
Der Nutzen dieses vor allem durch »Nine eleven« neu entstandenen bzw. neu aufgebauten Bedrohungsszenarios für die Legitimierung erweiterter Kriegsoptionen zeigt sich in der Hilfestellung akademischer Berater, die den neuen Ansatz in vielfältigen Veröffentlichungen »wissenschaftlich« absichern. Interessant sind z.B. die »Überlegungen für eine neue Interventionspolitik«, die vom »Centre for the Study of Global Governance« in London im Auftrag des damaligen Außenbeauftragten der Europäischen Union, Javier Solana, angestellt worden sind. Dort haben Marlies Glasius und Mary Caldor eine Studie zur »Human Security Strategy«3 erarbeitet, in der sie den Abschied von der herkömmlichen Verteidigungspolitik zugunsten einer erweiterten Sicherheitspolitik vorschlagen. Die Sicherheit sei nicht mehr an den Grenzen der Länder gefährdet, sondern durch den Zustand der Welt insgesamt. Externe und interne Sicherheit seien von jetzt an nicht mehr trennbar, was die klassische Verteidigungspolitik nicht berücksichtige. Zudem erfordere das neue »Konzept menschlicher Sicherheit« den Vorrang der Menschenrechte vor der staatlichen Souveränität, was es vom traditionellen staatsorientierten Konzept unterscheide. Am Ende dieses neuen geopolitischen Sicherheitskonzeptes der beiden Damen steht die Möglichkeit der militärischen Intervention: frühzeitig und langfristig geplant, ohne territoriale Begrenzung und überall dort, wo Gefahr identifiziert wird.

Legitimer Völkerrechtsbruch

Alle politischen und moralischen Begründungsversuche leiden jedoch unter dem Mangel einer universellen Anerkennung und dem zumeist nicht unbegründeten Verdacht, hinter ihrer Fassade andere strategische und ökonomische Interessen zu verfolgen. Deshalb bedarf es einer Referenz, die außerhalb der nationalen Interessen und mit dem Ausweis der Universalität die Ansprüche an eine allgemein anerkannte Legitimation erfüllt. Nach dem Verlust allgemeiner moralischer Standards erfüllt allein das internationale Recht, das Völkerrecht, diese Rolle, da es laut UN-Charta die Forderung nach universeller Anerkennung beansprucht. Deshalb fehlt in keiner Militärstrategie und keiner politischen wie wissenschaftlichen Abhandlung der Bezug auf das Völkerrecht und die UN-Charta. Selbst in den Fällen geplanter und offener Verletzung des Völkerrechts, wie in den beiden Kriegen gegen Jugoslawien und den Irak, spielte der »Kampf um das Völkerrecht« sowohl in der Vorbereitung des Angriffs wie in der Folgediskussion um die Rechtfertigung eine zentrale Rolle.
Überlegungen zur politischen bzw. moralischen Rechtfertigung eindeutiger Rechtsverstöße spielen in der völkerrechtlichen Literatur seit langem eine Rolle. Der Überfall auf Jugoslawien im Frühjahr 1999 war unter klarem Verstoß gegen das Gewaltverbot des Artikel 2 der UN-Charta erfolgt und konnte keine der anerkannten Rechtfertigungen der Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 oder des Mandats durch den Sicherheitsrat gemäß der Artikel 39/42 der UN-Charta aufweisen. Dieser Befund war nicht zu leugnen, führte aber zu der Frage: Wie kann ein Verstoß gegen das Gewaltverbot dennoch gerechtfertigt werden, wenn die Gewaltanwendung schwerste Verbrechen beenden soll, ihre Notwendigkeit offenkundig und ihre humanitäre Absicht klar ist?
In der positivistisch orientierten Wissenschaft überwogen die Bedenken gegen die Konstruktion und Einführung einer neuen Regel, um die humanitäre Intervention zu erlauben, da damit ihrer mißbräuchlichen Berufung Vorschub geleistet werden könne. Bereits 1991 hielt der US-amerikanische Völkerrechtler Oskar Schachter einen anderen Weg für angebrachter: »Es ist besser, eine Verletzung des Völkerrechts einzugestehen, die wegen der besonderen Umstände notwendig und wünschbar ist, als ein Prinzip anzunehmen, welches eine weite Bresche in die Barriere gegen die einseitige Anwendung von Gewalt schlagen würde.«4 Dieser moralische Positivismus fand auch in Europa Zustimmung, wo beispielsweise Schachters deutscher Kollege Bruno Simma die ausnahmsweise erfolgte Verletzung der UN-Charta durch die Bombardierung Jugoslawiens mit ihrer »overwhelming humanitarian necessity« rechtfertigte (»Illegal, aber legitim«), aber gleichzeitig vor einer Wiederholung wie vor einer Änderung des Rechts warnte: »Der entscheidende Punkt ist, daß wir nicht einfach die Rechtsregel wechseln sollten, um unserem humanitären Impuls zu folgen; wir sollten keine neuen Standrads einführen, nur um den richtigen Schritt in einem einzelnen Fall zu machen. Die Rechtsfragen, die durch die Kosovo-Krise aufgeworfen werden, sind ein eindrücklicher Beweis dafür, daß harte Fälle schlechtes Recht machen.«5

Hinderlicher Rechtspositivismus

Lassen wir einmal beiseite, daß die faktische Basis des »humanitären Impulses« gerade beim Kosovo-Konflikt nach wie vor mehr als umstritten ist. Die Konkurrenz zwischen Recht und Moral, Legalität und Legitimität endet immer wieder in der Sackgasse, wenn die Autoren Moral und Legitimität über das Recht stellen. Zwei weitere US-amerikanische Autoren erklären das Recht lediglich als Unterfutter der Legitimiät und schreiben: »Legitimität erwächst aus der Überzeugung, daß sich staatliches Handeln innerhalb eines rechtlichen Rahmens abspielt, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens muß dafür eine rechtlich gesicherte Grundlage bestehen, handeln darf also nur eine politische Institution, die ein Recht für ihr Vorgehen hat. Zweitens darf staatliches Handeln keine gesetzlichen oder ethischen Normen verletzen. Letztendlich ist Legitimität freilich in einer allgemeinen Vorstellung von Rechtmäßigkeit verwurzelt. Daher kann staatliches Handeln, auch wenn es in dem einen oder anderen Sinne gegen Gesetze verstößt, von der öffentlichen Meinung dennoch als legitim angesehen werden.«6 – illegal, aber legitim.
Um diese zirkuläre Argumentation aus ihrer Sackgasse zu befreien, löst die politikorientierte Rechtswissenschaft der New Haven Schule den eher statischen Rechtsbegriff des Positivismus auf und verbiegt ihn zu einem »fortlaufenden Prozeß autoritativer und kontrollierender Entscheidungen, durch den die Mitglieder einer Gemeinschaft versuchen, ihre gemeinsamen Interessen zu klären und zu sichern.« Dieses Zitat zeigt bereits, daß wir es auch hier mit einer schwierigen Operation zu tun haben. Hinter diesem Konzept steht die dienstbare Anpassung des Rechts an die Politik, wie sie W. Michael Reisman, einer der bekennenden Vertreter dieser Schule, in unmißverständlicher Klarheit ausdrückt: »Positivistische Rechtswissenschaft, die sich dem Entscheidungsprozeß der Bürokratie auf vielen Ebenen anbietet, begreift Gesetzmäßigkeit als Einhaltung der Regeln. Die Entscheider an der Spitze denken demgegenüber nicht an die Einhaltung der Rechtsregeln, sondern in den Kategorien, die die zahlreichen Politiken optimieren. (…) Aus der Perspektive des Juristen, der einen positivistischen rechtswissenschaftlichen Ansatz vertritt, handelt der Entscheider einseitig und rechtswidrig. Benutzen wir aber einen anderen und möglicherweise angemesseneren juristischen Blickwinkel, kann das zu der entgegengesetzten Schlußfolgerung führen.«7
Angewandt auf den Jugoslawien-Krieg argumentiert Reisman, daß sich ein Staat angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen gegenüber den eigenen Bürgern nicht mehr auf den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Artikels 2 der UN-Charta berufen könne. Dieser Artikel schrumpfe und müsse »angepaßt« werden (»appropriate adjustement«), um nicht mehr einer Intervention aus humanitären Gründen entgegengehalten zu werden.

Krieg als Gewohnheitsrecht

Eine subversivere Auflösung der internationalen Legalität kann man sich kaum vorstellen. Sie taugt zur Legalisierung jeglicher unilateraler Intervention der starken Mächte, wenn man ihr nur einen humanitären Hintergrund verschaffen kann. Mit dieser Operation rechtfertigte Reisman die NATO-Bombardierung Jugoslawiens sowie die US-Interventionen in Panama 1989 und in Grenada 1983. Ihr Rechtsrelativismus nährt sich aus dem Realismus machtpolitischer Interessenvertretung. Diese hat sich aus nationaler Sicht um das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung und nicht der Welt zu kümmern und daher auch nicht um das internationale Recht.
Diejenigen, die den subversiven Strategien der Rechtsjongleure mißtrauen, aber dennoch einen juristischen Weg zur Legalisierung der unilateralen Kriege suchen, knüpfen an die Dynamik des Völkerrechts, an die gewohnheitsrechtliche Fortentwicklung durch die Praxis der Staaten an. Diese Form der Rechtsentwicklung vollzieht sich ohne vertragliche Änderung der großen Konventionen, wie z.B. der UN-Charta, allein durch das Handeln der Staaten im Bewußtsein eigener Rechtsverpflichtung. Sie bedarf allerdings der Unterstützung einer überzeugenden Mehrheit der Staaten. Fortentwicklung bedeutet Veränderung des überkommenen Rechts, die sich zunächst in seiner Verletzung, im Bruch mit der herkömmlichen Rechtsüberzeugung manifestiert. Weite Bereiche des Völkerrechts haben sich auf diese Weise durch die Jahrhunderte hinweg fortentwickelt. In der Zeit nach 1945 hat sich allerdings die Kodifizierung durch vertragliche Übereinkunft immer mehr als Mittel der Rechtsentwicklung durchgesetzt. Insbesondere die Durchbrechung und Veränderung zwingenden Rechts (ius cogens) wie das Gewaltverbot der UN-Charta ist nur durch Entwicklung einer dritten Ausnahme neben den Artikeln 51 und 42 der Charta als neues zwingendes Recht möglich. So hat es auch bisher nur vereinzelte Stimmen gegeben, die bereits im Frühjahr 1999 zu Beginn der Bombardierung Jugoslawiens die humanitäre Intervention als gewohnheitsrechtliche Ausnahme vom Gewaltverbot ausgegeben hatten.
Doch der Druck auf eine »solide« völkerrechtliche Grundlage für humanitäre und größere Katastrophen vorbeugende Interventionen wächst. Als Reaktion auf das Scheitern des UN-Sicherheitsrats angesichts der Kosovo-Krise und des Ruanda-Völkermords forderte UN-Generalsekretär Kofin Annan die Völkergemeinschaft mehrfach auf, die Probleme der völkerrechtlichen Instrumente angesichts derartiger Katastrophen zu überprüfen und neue Prinzipien zu entwickeln: »…wenn die humanitäre Intervention in der Tat ein unakzeptabler Angriff auf die Souveränität ist, wie sollen wir dann auf Ruanda und Srebrenica und auf grobe und systematische Verletzungen der Menschenrechte antworten, die alle Aspekte unserer gemeinsamen Humanität verleugnen?«
Die kanadische Regierung nahm die Anregung auf und bildete die »International Commission on Intervention and State Sovereignty« (ICISS). Sie schlug in ihrem Bericht vom Dezember 2001 die neue Doktrin »The Responsibility to protect«8 vor, die von der Verpflichtung der UN-Mitgliedstaaten ausgeht, das Leben, die Freiheit und die fundamentalen Menschenrechte ihrer Bürger zu schützen. Sollten sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen können oder wollen, so habe die internationale Völkergemeinschaft die Verpflichtung einzugreifen. Diese Doktrin hat viel Beifall, aber auch manche Kritik erhalten, da sie letztlich wieder auf den Krieg zur Lösung sozialer Konflikte setze. Zudem laden derartige Entwürfe zur Erweiterung ein, was Lee Feinstein und Anne-Marie Slaughter auch sogleich nutzten, um die Doktrin um eine »duty to prevent« zu ergänzen.9 Auf dem Feld der globalen Sicherheit möchten sie den Staaten eine Verpflichtung auferlegen, »um Nationen, die von Herrschern ohne Kontrolle ihrer Macht geführt werden, davon abzuhalten, Massenvernichtungswaffen zu gebrauchen.« Eine willkommene nachträgliche Rechtfertigung des Überfalls auf den Irak.
Bis auf wenige Ausnahmen liefert die herrschende politische und juristische Theorie keine Grundlagen, die den Widerstand gegen die Rehabilitierung des Krieges stärken könnten. Sie steuert den Angriff auf das Völkerrecht selbst. Mögen die Regeln des Völkerrechts und der UN-Charta noch so klar und eindeutig den Krieg verurteilen und den Frieden propagieren, ihre Interpreten, die Völkerrechtler, folgen lieber den Kriegstrommeln ihrer Regierungen. Sie sind die wahren Spindoktoren militärischer Einsätze. Die akademische Welt läßt die Friedensbewegung allein – das wäre nicht das erste Mal. Sorgen wir dafür, daß die Friedensbewegung die akademische Welt nicht den Regierungen überläßt.

Anmerkungen

1 Kaldor, M.: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a.M 2000.
2 Münkler, H., Senghaas, D.: Alte Hegemonie und Neue Kriege. (Streitgespräch) In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2004, S. 539-552
3 Glasius, M., Caldor, M.: Individuals first: A Human Security Strategy for the European Union. In: Internationale Politik und Gesellschaft Heft 1/2005
4 Schachter, O.: International Law in Theory and Practice, Boston 1991.
5 Simma, B.: NATO, the UN, and the Use of Force: Legal Aspects. In: European Journal of International Law, S. 14, Vol. 10, 1999
6 Tucker, R.W., Hendrickson, D. C.: Vom Nutzen des Völkerrechts, in: Rheinischer Merkur Nr. 45/2004
7 Reisman, W. M.: Unilateral Actions and the Transformations of the World Constitutive Proceß: The Special Problem of Humanitarian Intervention, in: European Journal of International Law, S. 3 ff., Vol. 11, 2000.
8 ICISS, Evans, G., Sahnoun, M:, The Responsibility to Protect, Ottawa 2001.
9 Feinstein, L., Slaughter, A.-M: A Duty to Prevent. In: Foreign Affairs, January/February 2004.

Norman Paech ist emiritierter Professor für Öffentliches Recht und Mitglied der Partei Die Linke
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