Mindestens 17 Millionen Menschen – Schätzungen reichten bis zu 30 Millionen – gingen am 15. Februar 2003 weltweit auf die Straße, um gegen den drohenden US-Krieg gegen Irak zu protestieren. Es war eine einzigartige Demonstration der internationalen Zivilgesellschaft, die sogar Eingang fand ins Guinness-Buch der Rekorde. Weder zuvor noch danach gab es eine vergleichbare politische Protestwelle – und das will etwas heißen, wenn man z.B. erinnert an die von der Arbeiterbewegung organisierten Massendemonstrationen am Vorabend des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, an den europäischen Widerstand gegen die US-Atomraketenpläne Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts oder an die spontane Demonstrationswelle gegen den zweiten Golfkrieg 1991. Eine wahre »Internationale des Friedens« wurde sichtbar, die durch nichts anderes zusammengehalten wurde als vom Willen, einen völkerrechtswidrigen und verbrecherischen Angriffskrieg in letzter Minute zu verhindern. Die New York Times schrieb anerkennend, mit der öffentlichen Meinung der Welt habe sich an diesem Tag eine »zweite Supermacht« gebildet, die der zu jener Zeit herrschenden einzigen Supermacht USA Paroli bieten würde.
Eine der größten Friedensdemonstrationen in der Geschichte Deutschlands erlebte vor zehn Jahren auch Berlin. Eine halbe Million Menschen kamen nach Angaben der Polizei zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule zusammen. Dem wollten damals die Organisatoren nicht widersprechen – obwohl intern von einer weit größeren Zahl ausgegangen wurde.
Man vergegenwärtige sich, daß dies möglich war nach Jahren der Häme, die der Friedensbewegung von seiten der Mainstreammedien entgegengebracht wurde: Seit dem zur Legende hochstilisierten Aufschwung der Antiraketenbewegung der frühen 80er Jahre, dem ein mehrjähriger Abschwung folgte, gehörte es zum schlechten Ton der Meinungsmacher in den privaten und öffentlich-rechtlichen Medien, die Friedensbewegung entweder für tot zu erklären oder bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu fragen, wo sie denn bleibe – eine Frage, die sich doch eigentlich erübrigt hätte, wenn man von deren Ableben ausging. Seit 1983 lag die Latte für die öffentlichen Aktivitäten der Friedensbewegung sehr hoch: Zu toppen waren die Massendemonstrationen, damals noch im Bonner Hofgarten, deren Teilnehmer nach Hunderttausenden zählten.
Ähnlich ist es heute. Seit 2003 – der Antikriegsprotest verebbte nach Beginn des Irak-Krieges relativ schnell – tut sich die Friedensbewegung schwer, Massenproteste zu organisieren. Obwohl es an Anlässen bei Gott nicht mangelt! Doch weder der andauernde Afghanistan-Krieg noch die NATO-Intervention in Libyen oder der von Deutschland unterstützte Feldzug Frankreichs in Mali kann die Menschen in nennenswerter Anzahl zum sichtbaren Protest bewegen. Auch andere Themen reißen die Menschen nicht vom Hocker: Die erfreulich zahlreichen Aktionen etwa gegen die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung im vergangenen Jahr fielen zwar auf Zustimmung in weiten Kreisen der Bevölkerung, wurden aber lediglich von wenigen engagierten Aktivisten getragen.

Mobilisisierungsschwäche

Fragen wir also nach den Faktoren, die der Mobilisierungsschwäche der Friedensbewegung zugrunde liegen könnten. Kann nicht eine Ursache der gegenwärtigen Schwäche darin liegen, daß die bis dahin größte Massenbewegung gegen einen drohenden Krieg letztlich erfolglos blieb, weil der Krieg nicht verhindert werden konnte? Die frustrierende Erfahrung des »Die da oben machen ja doch, was sie wollen!« hat auch in anderen Politikbereichen zu einem dramatischen Rückgang außerparlamentarischer Initiativen und Bewegungen geführt.
Die politisch herrschende Klasse kann in der Krieg-Frieden-Frage auf den Gewöhnungseffekt setzen. Seit mehr als zwei Jahrzehnten sind die Regierungen der Weltmächte – insbesondere des Westens – dabei, Kriege wieder führbar zu machen und tatsächlich auch zu führen. Dazu werden scheinbar »neutrale« Instanzen wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen instrumentalisiert (z.B. im Fall Libyen) oder ein ideologisches Trommelfeuer in Gang gesetzt, wonach Intervention und Krieg zur Verteidigung von Menschenrechten oder zur Durchsetzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit rechtens sein sollen. Nach elf Jahren Krieg in Afghanistan ist es schwer, den täglichen Skandal des Krieges in der Öffentlichkeit wachzuhalten – zumal er in den führenden Medien so gut wie nicht mehr vorkommt und wenn, dann nur mit der Beschwichtigung, daß er in absehbarer Zeit beendet würde.
Dabei kann die Friedensbewegung gerade in Sachen Afghanistan-Krieg auf den Rückhalt in der Bevölkerung setzen. Doch Umfrageergebnisse reflektieren zunächst ja nur Meinungen, nicht aber die Bereitschaft, dafür auch auf die Straße zu gehen. In keiner Phase der politischen Auseinandersetzung um den Krieg am Hindukusch ist erkennbar geworden, daß dieser in der Gesellschaft auch eine größere Betroffenheit erzeugt hätte. Dies ist aber Voraussetzung für eine Massenmobilisierung.
Alle Militärinterventionen der neuen Zeitrechnung nach dem Ende der Bipolarität – vom Somalia-Einsatz 1993 über die Teilnahme am NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 bis zum »Antiterror«- und »Antipiraten«-Krieg in Afghanistan und am Horn von Afrika oder bis zur NATO-Intervention in Libyen – sind humanitär begründet worden: Angeblich ging es entweder darum, eine »humanitäre Katastrophe« zu verhindern oder Menschen vor einem menschenverachtenden Regime in Schutz zu nehmen oder demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien sowie allgemein gültige Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte, durchzusetzen oder dem internationalen (See-)recht zum Durchbruch zu verhelfen. Diese regierungsamtliche Lesart wird bereitwillig von den Massenmedien – von den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten bis zu den Printmedien von der FAZ bis zur taz – verbreitet. Abweichende Meinungen bleiben den wenigen linken Presseorganen, ausgewählten Magazinsendungen und den Feuilletons sowie Leserbriefspalten der Zeitungen vorbehalten. Eigenartig ist dennoch, daß die geballte kriegsfreundliche Propagandaoffensive der Bevölkerung bisher so wenig anhaben konnte. Umfrageergebnisse zeigen, daß sich die Mehrheit der Bevölkerung hierzulande äußerst resistent gegenüber den Einflüsterungen der Kriegsparteien verhält. Auch im jüngsten Konflikt um Mali gibt es keine ausgeprägte Bereitschaft, der Kriegsmacht Frankreich militärisch »zu Hilfe« zu kommen.

Lernprozesse

Alle Aktivitäten der Friedensbewegung hinterlassen ihre Spuren – jedenfalls über einen größeren Zeitraum. Bei den Demonstranten, die sich Anfang der 80er Jahre gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Europa zur Wehr setzten, bei den überwiegend jungen Leuten, die 1991 gegen den Golfkrieg massenhaft auf die Straße gingen, bei den Massen, die am 15. Februar 2003 gegen den drohenden Irak-Krieg Berlin »besetzten«, bei den Studierenden und Schülern, die sich in den letzten zwei bis drei Jahren gegen die Bundeswehroffensive an den Bildungseinrichtungen zur Wehr zu setzen begannen: bei all diesen Menschen entwickelten sich Einsichten und Einstellungen, die sich mit dem jeweiligen Ende der Massenproteste ja nicht einfach wieder verflüchtigen. Diese Protestereignisse sind für die Teilnehmer zu wichtigen, in manchen Fällen vielleicht sogar zu entscheidenden politischen Sozialisationserfahrungen geworden.
Regierung, Bundeswehr und Medien arbeiten mit Hochdruck daran, den Krieg wieder als »normales« Mittel der Politik erscheinen zu lassen. Für die Friedensbewegung gibt es daher kein Ausruhen. Vielmehr muß sie – auch in der Talsohle – immer wieder aufs neue nach Themen, geeigneten Ansatzpunkten und Aktionsformen suchen, mit denen neue, vor allem auch jüngere Kräfte in die Bewegung einbezogen werden können.

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