Vor nicht allzu langer Zeit feierten Millionen Menschen im Südosten der Türkei eine historische Deklaration, die Frieden in die umkämpfte Region bringen sollte. Zum kurdischen Neujahrsfest (Newroz) im März 2013 verkündete der inhaftierte Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan: »Endlich beginnt eine neue Ära, nicht die Waffen werden im Vordergrund stehen, sondern die demokratische Politik.«
Etwas mehr als drei Jahre nach der Newroz-Erklärung Öcalans liegen zahlreiche Städte Nordkurdistans (Bakur) in Schutt und Asche. Zerstört auf Geheiß des autoritär herrschenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierungspartei AKP, die aus innen- wie außenpolitischem Kalkül Mitte 2015 den sogenannten Friedensprozess mit der PKK abgebrochen und eine Militäroffensive gestartet hat. Sur, die historische Altstadt der Millionenmetropole Diyarbakir (kurdisch: Amed), ist heute weitgehend zerstört; in Städten wie Sirnak (Sirnex), Nusaybin (Nisebin) oder Cizre (Cizir) prägen Ruinen das Bild. Hunderttausende Menschen befinden sich auf der Flucht, viele harren in Zelten aus. Die humanitäre Situation ist katastrophal. Amnesty International spricht von »kollektiver Bestrafung« der kurdischen Bevölkerung. Erdogan selbst erklärte, man werde die kurdische Bewegung »vernichten« und die Städte im Südosten der Türkei »Meter um Meter säubern«.
Das Jahr 2016 wird in dieser Region als das Jahr der »Ausgangssperren« in die Geschichte eingehen: Truppen des türkischen Militärs und faschistische Sondereinheiten der Polizei belagerten die Hochburgen der kurdischen Befreiungsbewegung und brachen den Widerstand spontan entstandener Zivilverteidigungseinheiten (YPS) mit roher Gewalt. Wohnviertel wurden mit Panzern und Artillerie angegriffen, Scharfschützen beschossen jeden, der es wagte, die Straße zu betreten. Auch die Luftwaffe kam zum Einsatz und international geächtete Clusterbomben wurden abgeworfen. Hunderte Zivilisten starben, Tausende wurden verletzt.
Zum Symbol des Terrors wurde das Massaker von Cizre im Februar. Die türkische Armee beschoss unbewaffnete Zivilisten und Verletzte, die in Kellern von Wohnhäusern Zuflucht vor den Gefechten suchten. Anschließend wurde Benzin in die Keller eingeleitet und in Brand gesetzt, mehr als hundert Menschen starben. »Es war die Menschlichkeit selbst, die in Cizre verbrannt wurde«, erklärte der HDP-Abgeordnete Faysal Sariyildiz im September vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen.
Auf die militärischen Auseinandersetzungen folgte die Zerschlagung auch der legalen Vertretungen der Kurden. Dutzende Mandatsträger der linken Parteien HDP und DBP wurden inhaftiert und einige von ihnen gefoltert. Kurdische Lehrer wurden entlassen, Hilfsvereine verboten. Das offenkundige Ziel der AKP besteht in der Zerschlagung aller politischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen der kurdischen Minderheit.
Einmarsch in Syrien
Während die Repression gegen Kurden in der Türkei immer schärfere Züge annahm, erklärte Ankara am 24. August 2016 den Beginn der Militärmission »Schild des Euphrat«. Türkische Truppen überschritten die Grenze zu Syrien und eroberten, im Verbund mit zahlreichen islamistischen Milizen, zunächst die Grenzstadt Dscharabulus. Zwar wurde als Vorwand für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg die Bedrohung der Türkei durch den »Islamischen Staat« (IS) inszeniert, gleichwohl ließ Staatspräsident Erdogan keinen Zweifel daran, was das tatsächliche Ziel der Operation war: Die im kurdischen Norden Syriens (Rojava) hegemoniale Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihre Volksverteidigungseinheiten (YPG) sollten geschwächt und zurückgedrängt werden.
Die YPG war – zusammen mit arabischen, assyrischen und anderen Milizen – dabei, zwischen den Kantonen Afrin (Efrin) und Kobani eine Verbindungslinie freizukämpfen. Damit wäre die gesamte syrisch-türkische Grenze unter der Kontrolle der Kurdenpartei und ihrer Verbündeten gewesen. So aber besetzten die von der Türkei unterstützten dschihadistischen Banden bis Ende 2016 einen Korridor zwischen Afrin und Kobani, immer wieder kam es zu direkten Angriffen türkischer Artillerie und Luftwaffe auf Stellungen der YPG. Bei einer dieser Attacken starb auch ein deutscher Freiwilliger, der in den Reihen der Volksverteidigungskräfte kämpfte.
Der Krieg in Syrien war im Jahr 2016 geprägt durch wechselnde Bündniskonstellationen. Unterstützte etwa die imperialistische Hauptmacht USA den Vormarsch der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) in Richtung der IS-Hochburg Rakka, gab Washington der Türkei dennoch grünes Licht, um im Zuge der Operation »Schild des Euphrat« gegen die Kurden vorzugehen. Die YPG ihrerseits lieferte sich zeitweise Gefechte mit Assad-treuen Kräften in Al-Hasaka, kooperierten aber während des Kampfes um Aleppo zugleich mit der regulären Syrisch-Arabischen Armee.
Insgesamt ist es der PYD gelungen, 2016 im Chaos des syrischen Krieges ihre Stellungen zu halten und auszubauen. Das Projekt, basisdemokratische, geschlechtergerechte Strukturen in Rojava aufzubauen, wurde auch unter schwierigsten Bedingungen weiter vorangetrieben.
Basur und Rojhelat
Weniger mediale Beachtung als Rojava und Bakur erfuhren jene beiden Teile Kurdistans, die auf irakischem (Basur) und iranischem Territorium (Rojhelat) liegen. Dabei ist gerade die Bedeutung der politischen Verschiebungen in der Autonomen Region Kurdistan (KRG) auf dem Gebiet des Nordirak auch für Syrien und die Türkei nicht zu unterschätzen.
Dort, an der Grenze zur Türkei liegt das Kandilgebirge, das Hauptquartier der kurdischen Guerilla HPG. Weiter im Süden der KRG kämpfen PKK-Einheiten in Sengal (Sindschar) und an der Kirkuk-Front gegen den IS. Diese Hausmacht der Kurden ist der Türkei ein Dorn im Auge. Deshalb betonen AKP-Sprecher seit Monaten, diese »Bedrohung« nicht mehr hinnehmen zu wollen. Ankara liebäugelt mit einem Einmarsch im Nordirak. Eine Truppenverlegung in das Grenzgebiet fand bereits statt.
Im Iran baut die PKK-Schwesterpartei PJAK derzeit eine »demokratische Front« für alle Iranerinnen und Iraner auf. »Jede Regionalmacht, insbesondere der Iran, die Türkei, der Irak und Syrien, ist verantwortlich für einen Teil der Krise. Würde in diesen Nationen der Weg zu Frieden und Demokratie beschritten, wäre es nie zu dieser Situation der Krise und des Krieges gekommen«, stellte die Kovorsitzende der PJAK, Zilan Vejin, im Dezember fest. »Alle demokratischen, sozialistischen, linken, feministischen Kräfte und alle, die daran arbeiten, einen nachhaltigen Weg zu öffnen, sollten an der Schaffung einer demokratischen Front teilnehmen«, schlug sie vor.
BRD hilft Erdogan
Während sich bereits im Vorjahr abgezeichnet hatte, dass in Bakur eine Zuspitzung der militärischen Auseinandersetzungen stattfinden würde, war das Jahr 2016 geprägt durch Kämpfe an nahezu allen Fronten Kurdistans. Die durch imperialistische Interventionen und die neoosmanische Politik der Türkei forcierte Krise der gesamten Region betrifft alle vier Teile Kurdistans.
Mit der Eskalation der Gewalt im Südosten der Türkei bezog im zum Ende gehenden Jahr dann auch die Bundesregierung deutlicher Stellung: Zwar kritisierte man verbal zuweilen die nicht zu verleugnenden Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung in Ankara. In der Praxis allerdings wurde die Verfolgung kurdischer Oppositionskräfte im Exil ausgeweitet. Bundesinnenminister Thomas de Maizière bekundete am 16. November am Rande der Jahrestagung des Bundeskriminalamts, man sei »offen und bereit« für eine deutsch-türkische Kooperation gegen kurdische Exilaktivisten. Mehr als ein Dutzend Menschen müssen sich wegen angeblicher »Terror«-Unterstützung vor deutschen Gerichten verantworten.
Das lukrative Geschäft mit dem Krieg spülte auch 2016 wieder Millionen in die Kassen deutscher Rüstungsunternehmen. Während die mit Sig-Sauer- sowie Heckler-und-Koch-Gewehren ausgestatteten Spezialeinheiten der Polis Özel Harekat in Bakur mordeten, verzehnfachte sich die Ausfuhr von Kleinwaffenmunition. Die Türkei rückte von Platz 25 auf Platz 8 der wichtigsten Abnehmerländer deutscher Projektile vor.
Quelle