Der 1. Mai fand in diesem Jahr unter besonderen Bedingungen statt. In erster Linie ist es die gesellschaftliche Situation, die sich nicht mit den Vorjahren vergleichen lässt. Die Entwicklung der kapitalistischen Krise, die sich schon vor der Pandemie abgezeichnet hat, wurde durch das Virus in einer Dimension vertieft und beschleunigt, die nicht vorstellbar war. Klassenwidersprüche werden für viele Lohnabhängige wieder deutlicher erfahrbar, die vermeintlichen Sicherheiten im Kapitalismus bröckeln, die harte Hand des bürgerlichen Staates wird spürbarer. Wenn der 1. Mai kein Ritual der Selbstbestätigung sein soll, dann muss er in diesem Jahr zumindest erste Antworten geben, einen kollektiven Umgang und konkrete Beispiele für Widerstand aufzeigen.
In den Mobilisierungen sowohl auf die klassenkämpferische Bündniskundgebung, als auch auf die revolutionäre Demo haben wir zusammen mit anderen GenossInnen, Initiativen und Organisationen versucht an der Arbeit anzuknüpfen, die wir in den letzten zwei Monaten zusammen mit vielen GenossInnen entwickelt haben: Solidarität zu den tagesaktuellen und dringlichen Problemen der KollegInnen aufbauen, die verschiedenen Forderungen und Perspektiven in die gemeinsamen Interessen als Klasse einordnen, als KommunistInnen den gemeinsamen Kampf für eine revolutionäre Umwälzung verständlich und in praktischen Aktionen greifbar machen.
Bündnismobilisierung
Bei der klassenkämpferischen Mobilisierung mit einem linken Bündnis, das sich auf Initiative der Initiative Klassenkampf Stuttgart zusammenfand, stand eine zentrale Kundgebung in der Innenstadt im Mittelpunkt. Vor der Kundgebung fanden Aktionen zu einzelnen Facetten der aktuellen Krisensituation statt:
– Eine Kundgebung an der S21-Baustelle, die sich mit türkischen Bauarbeitern solidarisierte. Die Kollegen mussten unter unerträglichen Bedingungen für 7 Euro die Stunde für das Bahnprojekt schuften. Von ihnen infizierten sich einige wegen fehlender Schutzausrüstung und der prekären Wohnsituation in provisorischen Baracken schnell mit dem Virus, wurden erst zum Weiterarbeiten genötigt und nun nach Veröffentlichung der Zustände zum Teil wieder abgeschoben. Unter den ca. 100 TeilnehmerInnen waren auch Teile der S21-GegnerInnen, die noch immer am Protest gegen das kapitalistische Großprojekt festhalten.
– Im Anschluss fand eine von ver.di organisierte Kundgebung am Klinikum Stuttgart statt, bei der die Forderungen der Beschäftigten nach besseren Arbeitsbedingungen, mehr Lohn und tatsächlicher Anerkennung jenseits billiger Worte und Applaus herausgestellt wurden.
– Das Aktionsbündnis 8. März sorgte auf dem Weg vom Klinikum zur Bündniskundgebung für Stadtverschönerungen mit ausdrucksstarken Wäscheleinen und Plakaten.
Auf der Kundgebung selbst fanden sich mehrere Hundert TeilnehmerInnen aus einem breiten Spektrum ein: Von KollegInnen aus Betrieben und Gewerkschaften, über Teile der Linkspartei, verschiedene linke und revolutionäre türkisch-kurdische Organisationen, S21-GegnerInnen, Antifas und InternationalistInnen und viele Interessierte und Sympathisierende, die von der verhältnismäßig kurzen aber in der Stadt präsenten Mobilisierung angesprochen wurden.
Es wurden Reden gehalten von einer Beschäftigten im Klinikum Stuttgart, dem Vorsitzenden der Vertrauensleute im Daimler-Werk Stuttgart-Untertürkheim, von der Informationsstelle Militarisierung aus Tübingen zu den Gefahren der aktuellen staatlichen Aufrüstung und Notstandpolitik und von einer Vertreterin des linken Zukunftsforums Stuttgarter Gewerkschaften, zum Kampf der streikenden ArbeiterInnen beim Maschinenbauer Voith im bayrischen Sonthofen. Die Moderation vom Aktionsbündnis 8. März und der Initiative Klassenkampf betonte darüber hinaus den internationalistischen Charakter des 1. Mai und die gemeinsame antikapitalistische Perspektive der verschiedenen Kämpfe.
Revolutionäre Mobilisierung
Schon am Morgen, pünktlich um 9 Uhr, zogen über 50 GenossInnen in einer kurzen, gut organisierten Spontandemo durch das Lehenviertel und machten mit viel Rauch und Pyro klar, dass der 1. Mai auch in Zeiten eines verstümmelten Versammlungsrechts ein Kampftag bleibt. Offensichtlich können fest eingehaltene Sicherheitsabstände und Mund-Nasen-Schutzmasken auch Teil von kämpferischen Straßenaktionen sein.
Im Anschluss an die Bündniskundgebung am Mittag formierte sich die Revolutionäre Demo und lief mit über 500 TeilnehmerInnen eine kurze Route durch die Innenstadt. Es beteiligten sich große Teile der vorherigen Kundgebung. Dass auch zahlreiche betrieblich aktive KollegInnen sich beteiligten, werten wir als wichtiges Zeichen, an dem wir weiter anknüpfen wollen.
Auch hier wurden Sicherheitsabstände in 4er-Reihen mithilfe von markierten durchlaufenden Seilen und Absperrbändern soweit möglich eingehalten. Wir haben nur wenige Seitentransparente eingesetzt, um das Einhalten der Abstände zu erleichtern und dafür im vorderen Bereich stärker noch auf eine gute Reihenaufstellung geachtet. Schilder, rote Fahnen und hunderte rote Schutzmasken gaben der Demo trotz der ungewohnten Form ein gemeinsames, klar revolutionär und klassenkämpferisch geprägtes Bild. Vor der Paulinenbrücke fand eine Schilderaktion statt, bei der ein Teil im vorderen Bereich der Demo Schilder über den Köpfen hielt, die von oben gesehen zusammen die Parolen: „Eure Krise: nicht auf unserem Rücken!“ und im Anschluss einmal umgedreht: „Kapitalismus abschaffen! Sozialismus erkämpfen!“ bildeten. An einem Gerüst am Rand der Demo war kurz darauf ein großes Transparent der Apoistischen Jugend zu sehen, das Bullen zu dem Zeitpunkt leider schon halb abgehängt hatten. Zum Schluss der Demo, der mit einem kleinen Feuerwerk am Rand des Marienplatzes eingeläutet wurde, ließen wir uns es auch in diesem Jahr nicht nehmen, eine vermummte Rede auf dem Lautsprecherwagen zu halten. Die gesamte Demo über wurden am Rand die 1.Mai-Zeitungen von Perspektive Kommunismus verteilt, sowie Wandzeitungen und Plakate mit Kabelbindern angebracht.
Die Bullen waren den ganzen Tag über mit einem großen Aufgebot in der Stadt unterwegs, ließen unsere Demo, abgesehen von einigen Schikanen und Kontrollen im Vorhinein, aber weitgehend in Ruhe.
Im Anschluss an die Revolutionäre Demo verteilten sich größere Teams mit bis zu 40 Leuten in drei Stadtteile, und richteten sich mit mehreren Spontankundgebungen und fahrenden Lautsprecher-PKW‘s direkt an die AnwohnerInnen und PassantInnen. Es wurden kurze Reden gehalten, in Kleingruppen Wandzeitungen ausgehängt, Flyer an PassantInnen und in Briefkästen verteilt, Tapeten-Bahnen mit Parolen verklebt und aufgespannte Folien besprüht. Die Bullen waren aufgeschreckt von den gleichzeitigen Aktivitäten und haben erfolglos versucht die Situation unter ihre Kontrolle zu bringen. Es blieb bei wenigen Personalienfeststellungen und der ein oder anderen Sprinteinlage.
Fazit
Wir haben von Anfang an deutlich gemacht, dass wir am 1.Mai auf die Straße gehen werden. Und das heißt für uns immer auch, sich nicht nur von den Bestimmungen der Behörden abhängig zu machen. Wir und viele weitere GenossInnen haben verschiedene Situationen und Möglichkeiten vorbereitet und waren dadurch den ganzen Tag über handlungsfähig. Gleichzeitig haben wir versucht, die verschiedenen Ebenen, die eine solche Mobilisierung beinhaltet zu beachten: Anknüpfung an Kämpfe / Probleme der Klasse und Wirkung in die Klasse hinein, bestärkende Zusammenarbeit mit anderen linken Kräften, Präsenz revolutionärer Standpunkte und Perspektiven, Weiterentwicklung der organisierten Straßenpraxis. Sicher gab es einiges, das nicht geklappt hat, oder besser hätte laufen sollen. Dinge, an denen wir zusammen mit den zahlreichen GenossInnen, die zusammen mit uns diesen 1. Mai gestaltet haben, weiter arbeiten müssen. Dennoch gehen wir davon aus, dass wir im Gesamten viele wichtige Erfahrungen sammeln konnten, die wir weiter teilen und ausbauen möchten. Auch wenn wir noch sehr viel vor uns haben: Die Orientierung an den relevanten Kampffeldern in der Klasse, die sich gerade entwickeln, und ein klares Auftreten als KommunistInnen schaffen wichtige Voraussetzungen dafür eine schlagkräftige revolutionäre Bewegung aufzubauen, das hat uns der 1. Mai 2020 in Stuttgart – wenn auch nur im Kleinen – vor Augen geführt.