Harte Geopolitik und die militärische Selbstbehauptung Europas
Vom 16. Bis zum 18. Februar 2018 versammelten sich wieder einmal „Entscheidungsträger“ aus Politik, Wirtschaft und Militär zur alljährlichen Münchner Sicherheitskonferenz. Auf den etwa 40 Panels und Vorträgen ging es natürlich um alles Mögliche. Dennoch kristallisierten sich über die Tage vor allem drei zentrale Befunde beziehungsweise daraus abgeleitete Forderungen heraus, die auf der Konferenz selbst wie auch in der medialen Aufbereitung die zentrale Rolle spielten: Erstens wurde diagnostiziert, dass sich die weltpolitischen Konflikte bedrohlich zugespitzt hätten, wobei nicht zuletzt der Auftritt des kommissarischen Außenministers Sigmar Gabriel verdeutlichte, weshalb dies der Fall ist. Zweitens wurde dies mit einem Plädoyer für eine „beherzte“ Aufrüstung der Europäischen Union verknüpft, um sich in diesen neuen Großkonflikten behaupten zu können – am Rande wurden dabei auch die Rahmenbedingungen des künftigen transatlantischen Verhältnisses mitverhandelt. Und schließlich ging es drittens darum, dass hierfür ganz generell, aber ganz besonders von  Deutschland erheblich mehr Mittel in den Militärbereich investiert werden müssten, als es die happigen Steigerungen im Entwurf eines Koalitionsvertrages zwischen CDU/CSU und SPD ohnehin bereits vorsehen.
Am Abgrund harter Geopolitik
Seit einigen Jahren wird unmittelbar vor Beginn der Sicherheitskonferenz der „Munich Security Report“ veröffentlicht, mit dem als „Begleiter und Impulsgeber“ bereits zentrale Themen gesetzt werden sollen. Im deutschsprachigen Antext der diesjährigen Ausgabe mit dem Titel „Am Abgrund – und zurück?“ heißt es: „Im letzten Jahr ist die Welt näher – viel zu nah – an die Schwelle von extremen Konflikten gerückt und die internationale Gemeinschaft muss alles tun, um sich von dieser Schwelle wegzubewegen.“[1] Auch Konferenzleiter Wolfgang Ischinger selbst brachte seine Besorgnis mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Ich denke, die Lage der globalen Sicherheit ist heute instabiler als sie es jemals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gewesen ist.“[2]
Vor allem im Verhältnis mit Russland und China bemüht man sich inzwischen nicht einmal mehr, die schweren geopolitischen Konflikte mit irgendwelchen Worthülsen zu kaschieren. So hieß es in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der US-Regierung vom Dezember 2017: „China und Russland fordern die amerikanische Macht, ihren Einfluss und ihre Interessen heraus und versuchen Amerikas Sicherheit und Wohlstand zu untergraben. […] Unsere Aufgabe ist es sicherzustellen, dass die militärische Überlegenheit der USA weiterbesteht. […] Wir werden den Frieden durch Stärke wahren, indem wir unser Militär neu aufstellen, damit es vorherrschend bleibt, unsere Feinde abschreckt und, sofern erforderlich, in der Lage ist, zu kämpfen und zu siegen. Wir werden mit allen nationalen Machtmitteln sicherstellen, dass Regionen der Welt nicht von einer Macht dominiert werden.“[3]
Folgerichtig sieht die daraus abgeleitete „Nationale Militärstrategie“ vom Januar 2018 eine Schwerpunktverlagerung weg von – sogenannten – Anti-Terror-Einsätzen wie im Irak oder in Afghanistan (die aber selbstredend weiterhin auch eine wichtige Rolle spielen sollen) hin zur Rüstung für mögliche Großmachtkonflikte vor.[4] Auf der Münchner Sicherheitskonferenz war der prominenteste US-Redner der Nationale Sicherheitsberater Herbert Raymond McMaster, unter dessen Ägide die „Nationale Sicherheitsstrategie“ angefertigt wurde. Insofern waren seine Ausführungen wenig überraschend: „Revisionistische  Mächte gefährden die Stabilität der Nachkriegsordnung durch militärische Gewalt oder andere schädliche Aggressionsformen.“[5]
Es war aber ausgerechnet der kommissarische – und künftige? – Außenminister Sigmar Gabriel, der am deutlichsten die Konturen einer neuen „globalen Großkonkurrenz“ (Nikolaus Busse) nachzeichnete: „Der zunehmende globale Führungsanspruch Chinas, die Machtansprüche Russlands, die Renaissance von Nationalismus und Protektionismus, all diese Phänomene führen zu massiven Verschiebungen in unserer Weltordnung mit unabsehbaren Konsequenzen.“[6]
Explizit griff Gabriel die Neue Seidenstraßen-Initiative heraus, mit der China mit riesigen Investitionen Infrastrukturprojekte in Asien vorantreiben will: „Die Initiative für eine neue Seidenstraße ist ja nicht das, was manche in Deutschland glauben, es ist keine sentimentale Erinnerung an Marco Polo. Sondern sie steht für den Versuch, ein umfassendes System zur Prägung der Welt im chinesischen Interesse zu etablieren. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Wirtschaft: China entwickelt eine umfassende Systemalternative zur westlichen, die nicht wie unser Modell auf Freiheit, Demokratie und  individuellen Menschenrechten gründet.“
Dankenswerter Weise betonte der SPD-Politiker dann, es sei „das gute Recht Chinas, eine solche Idee zu entwickeln.“ Andererseits schränkte er im gleichen Atemzug dieses „Recht“ insofern wieder ein, als der Westen Versuchen müsse, Chinas Ambitionen so weit als möglich zu konterkarieren:  „Wo aber die Architektur der liberalen Ordnung bröckelt, werden andere beginnen, ihre Pfeiler in das Gebäude einzuziehen. Auf Dauer wird sich dabei das gesamte Gebäude verändern. Ich bin mir sicher, am Ende fühlen sich weder Amerikaner noch Europäer in diesem Gebäude, das da neu entsteht, noch wohl. […] In der neuen und gegenüber dem Kalten Krieg heute weitaus komplexeren Welt geht es um die Systemkonkurrenz zwischen entwickelten Demokratien und Autokratien.“
In geradezu schockierender Offenheit bedient sich Gabriel hier der typischen Phrasen des Neuen Kalten Krieges. Aus PR-Gründen werden die aktuellen Auseinandersetzungen dabei nicht als Konflikte unterschiedlicher Machtblöcke oder Kapitalismen beschrieben, sondern als Kampf zwischen „Gut“ (Demokratien) und „Böse“ (Autokratien). Dass exakt diese Begrifflichkeiten schon vor Jahren durch den Ultrahardliner und Apologeten eines „Neuen Kalten Krieges“,  Robert Kagan, in die Debatte eingespeist wurden, rundet den Eindruck, den Gabriel mit seiner Rede hinterließ, vollends ab.[7] Für Interessensausgleich, vertrauensbildende Maßnahmen und ähnliches bleibt hier wenig Platz übrig. Unweigerlich fühlt man sich dadurch an eine  Kritik des großen Friedensforschers Johan Galtung erinnert: „Jede Vorstellung, die die Welt als anarchischen Dschungel mit herumstreifenden, egoistischen, habgierigen Nationalstaaten sieht, [macht] sie genau zu dem.“[8]
Jedenfalls legitimieren sich hieraus wiederum – zumindest aus Sicht von Gabriel und den anderen europäischen Vertretern auf der Sicherheitskonferenz – umfassende Maßnahmen zur militärischen Selbstbehauptung Europas: „Für uns Europäer muss klar sein: Um in der Welt von morgen unsere Werte, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit zu behaupten, müssen wir zusammenstehen. […] Aber Europa braucht auch eine gemeinsame Machtprojektion in der Welt. Die darf sich nie auf das Militärische allein konzentrieren, aber sie darf auch nicht vollständig darauf verzichten. Denn als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.“
EU-Aufrüstung: Fleischfresser statt Vegetarier
Konferenzleiter Wolfgang Ischinger ist dafür bekannt, dass er sich die Choreografie der Tagung recht genau überlegt, weshalb es kein Zufall gewesen sein dürfte, dass die Tagung von den Verteidigungsministerinnen Frankreichs und Deutschlands eröffnet wurde.[9] Damit sollte wohl dem „deutsch-französischen Motor“, der aktuell diverse Initiativen zum Ausbau der EU-Militarisierung anschiebt, symbolhaft der Rücken gestärkt werden. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ließ sich dann auch nicht lumpen und forderte in ihrer Rede vehement die Fortsetzung des eingeschlagenen Kurses: „Es geht um ein Europa, das auch militärisch mehr Gewicht in die Waagschale werfen kann. […] Der Aufbau von Fähigkeiten und Strukturen ist das eine. Das andere ist der gemeinsame Wille, das militärische Gewicht auch tatsächlich einzusetzen, wenn es die Umstände erfordern.“[10]
Ganz ähnlich klang ihre französische Amtskollegin Florence Parly, die sich allerdings den einen oder anderen Seitenhieb auf die – aus ihrer Sicht – zu zaghaften deutschen Rüstungsbemühungen nicht verkneifen konnte (siehe unten). Es war aber dann einmal mehr der Auftritt von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der hier die deutlichsten Akzente setzte. Da es nicht zuletzt die von ihm geführte Kommission war, die in jüngster Zeit Druck in Sachen EU-Militarisierung gemacht hatte, begann er seinen Beitrag ganz nach dem Motto „Eigenlob stinkt nicht!“: „Wir haben im letzten Jahr mehr Fortschritte in Sachen Europäische Verteidigungspolitik erreichen können als in den letzten 20 Jahren.“[11]
Neben einem Plädoyer, die in Gang gesetzten Maßnahmen zum Aufbau eines EU-Rüstungsmarktes konsequent umzusetzen[12], hatte Juncker vor allem einen Pfeil im Köcher und der zielte auf das Konsensprinzip in der Außen- und Militärpolitik: „Diese Einstimmigkeit, dieser Einstimmigkeitszwang hält uns davon ab, Weltpolitikfähigkeit zu erreichen. Immer wieder stellen wir fest, dass wir zu konsensuellen einstimmigen Beschlüssen nicht fähig sind.“
Mit der „Ständigen Strukturierteren Zusammenarbeit“ (engl.: PESCO) wurde unlängst bereits die Möglichkeit geschaffen, Teilbereiche der Militärpolitik auf Kleingruppen auszulagern und so das Konsensprinzip teilweise auszuhebeln. Diese Möglichkeit soll Juncker zufolge nun auch auf die Entscheidung zur Entsendung „ziviler“ Operationen und auch auf die Außenpolitik ausgedehnt werden: „Das setzt keine, wie viele meinen, Vertragsänderung voraus, sondern man kann sich berufen auf Artikel 31 (3) des Europäischen Vertrages von Lissabon, der vorsieht, dass der Europäische Rat einstimmig beschließen kann, in welchen Gebieten zukünftig mit qualifizierter Mehrheit Beschlüsse zu fassen sind. Und wir möchten uns in die Richtung bewegen, vor allem, wenn es um zivile Sicherheits- und Verteidigungsmissionen geht und anderes mehr.“[13]
Die Einführung qualifizierter Mehrheitsbeschlüsse (65%  der  EU-Bevölkerung  und  55%  der  EU-Mitgliedsstaaten) bedeutet, dass Deutschland und Frankreich allein bereits fast über eine Sperrminorität verfügen. Generell geht damit eine massive Verschiebung der Einflussmöglichkeiten zugunsten der EU-Großmächte einher – und genau dies ist auch Sinn und Zweck der Übung, wenn Wolfgang Ischinger im Vorfeld der Konferenz angab: „Solange jeder Kleinstaat mit einem Veto eine gemeinsame Außenpolitik verhindern kann, wird die EU bei der Lösung internationaler Krisen […] nur eine Nebenrolle spielen“[14]
Ein letzter Punkt, der von Juncker in München adressiert wurde, spielte auch in anderen Reden auf der Sicherheitskonferenz eine wichtige Rolle: Die möglichen Auswirkungen einer Hochrüstung EUropas auf das Verhältnis zu den USA. Dort waren in jüngster Zeit kritische Stimmen lauter geworden, was Juncker folgendermaßen quittierte: „Ich lese – nicht ohne Staunen –, dass einige auf der anderen Seite des Atlantiks sich jetzt vorstellen, die Europäische Union würde zu unabhängig werden in Sachen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Ja, wir möchten uns emanzipieren. Aber wir emanzipieren uns nicht gegen die NATO, nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Etwas pikiert fuhr er fort: „Uns erreichte über viele Jahre die Klage aus amerikanischem Munde, wir täten nicht genug für unsere eigene Verteidigung. Jetzt bemühen wir uns, mehr zu tun. Und jetzt ist es auch nicht recht. Entweder war das Eine richtig und das Andere falsch; oder das Andere war falsch und das Eine nicht richtig.“
Kritik wurde aber auch von EU-Seite geäußert, wenn es etwa im kurz vor Tagungsbeginn veröffentlichten „Munich Security Report“ hieß, „überraschenderweise“ kämen einige der heftigsten Attacken auf die (neo-)liberale Ordnung aus „unvorhergesehener Richtung.“[15] Gemeint waren damit natürlich die USA. Auf der anderen Seite sollten diese transatlantischen Dissonanzen auch nicht überbewertet werden: Schließlich hat sich die US-Politik unter Trump als „berechenbarer“ erwiesen, als viele befürchtet hatten. Außerdem besteht die Hoffnung, dass Trump ja nicht ewig an der Macht bleiben wird. Denn um die (neo-)liberale Ordnung gegen Angriffe Chinas und Russlands abzusichern, bleiben die USA der mit Abstand naheliegendste Partner (und umgekehrt). Bei diesem beiderseitigen Interesse handelt es sich um die Klammer, die wohl auch künftig die transatlantischen Beziehungen zusammenhalten wird, wie etwa Gabriel in seiner Rede unterstrich: „Die liberale Ordnung, die ‚liberal order‘, die unsere Welt nach den Verwüstungen und Verheerungen zweier Weltkriege neu geordnet hat, war und ist ganz sicher nicht perfekt. Aber sie ist die beste, die wir uns heute vorstellen können.“[16]
Auch sollte man Bedenken, dass die „Entfremdung“ im amerikanisch-europäischen Verhältnis lange vor der Wahl Donald Trumps eingesetzt hatte. Damals wie heute drehen sich die Auseinandersetzungen um die Frage der transatlantischen Macht- und Arbeitsteilung. Also wieviel Geld stecken die Europäer zusätzlich in ihre Rüstungshaushalte und wieviel Macht sind die USA bereit, hierfür abzugeben? Von der beiderseits befriedigenden Antwort dieser Kernfrage wird die Zukunft der transatlantischen Beziehungen abhängen. In  Gabriels Worten: „Niemand sollte versuchen, die EU zu spalten – nicht Russland, nicht China, aber auch nicht die Vereinigten Staaten. Die Europäische Union ist ein durchaus selbstbewusster Partner, der vertrauensvoll und auf Augenhöhe mit den USA kooperieren will, aber eben nicht im Gefolgschaftsverband.“[17]
Geld: Rüffel für Deutschland
Im Jahr 2017 beliefen sich die Militärausgaben der NATO-Mitgliedsstaaten nach eigenen Angaben auf 945 Mrd. Dollar (2016: 920; 2015: 895).[18] Somit konnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf der Sicherheitskonferenz stolz verkünden, es sei „ein wesentlicher Fortschritt und ein guter Start“, dass die Militärbudgets der europäischen NATO-Mitglieder seit 2015 jährlich gestiegen sind.  Und obwohl die Rüstungsausgaben Chinas (150 Mrd.) und Russlands (61 Mrd. Dollar Dollar) im Jahr 2017 weit dahinter zurückbleiben[19], herrschte unter den westlichen Akteuren auf der Sicherheitskonferenz Einigkeit, dass es weiterer Erhöhungen bedürfe. Doch auch diesbezüglich zeigte sich Stoltenberg optimistisch: Aktuell würden acht Verbündete mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für ihr Militär ausgeben, man rechne aber damit, dass sich diese Zahl bis 2024 auf 15 Länder erhöhen werde.[20] Kämen alle Staaten dieser – rechtlich keineswegs bindenden – Forderung nach, würden die Ausgaben der EU-28 (plus Norwegen) von 242 Mrd. Dollar (2017) auf 386 Mrd. Dollar (2024) rasant ansteigen, rechneten die Unternehmensberater von McKinsey im Auftrag der Münchner Sicherheitskonferenz aus.[21]
Diese Zielgröße wird von US-Präsident Donald Trump als das „absolute Minimum“ bezeichnet, wobei er selbst mit „gutem“ Beispiel vorangeht. Im kürzlich vorgestellten Entwurf für das Haushaltsjahr 2019 beantragte er 686 Mrd. Dollar für die „Verteidigung“ – der letzte von Vorgänger Barack Obama verantwortete Haushalt 2017 umfasste „nur“ 606 Mrd. Dollar. Allein die Steigerungen des US-Haushalts übertrifft also deutlich das gesamte russische Militärbudget des Jahres 2017![22]
Nicht weniger ambitioniert geht Frankreich unter dem neuen Präsidenten Emmanuel Macron den Rüstungsbereich an. Kürzlich wurde dort der Haushaltsentwurf für die Jahre 2019 bis 2025 verabschiedet. Er sieht eine jährliche Erhöhung der Militärausgaben um 1,7 Mrd. Euro und damit von 32,4 Mrd. Euro (2017) auf 44 Mrd. Euro (2023) vor. Und genau diesen Punkt betonte die französische Verteidigungsministerin Parly auch in ihrem Auftaktbeitrag zur Sicherheitskonferenz: „Das Erste waren die Finanzen. ‚Eine robuste europäische Verteidigung beginnt mit Anstrengungen zu Hause‘, sagte Parly, um anschließend die französischen Investitionen zu erläutern. Um dem Militär alle nötigen Mittel an die Hand zu geben, werde Frankreich bis 2025 zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben. Sie habe gerade ein konkretes Programm (‚Loi de programmation militaire‘) ausgearbeitet, bis 2025 rund 300 Milliarden Euro zu investieren. Es geht um eine umfassende Rüstungsmodernisierung, die konventionelle und nukleare Fähigkeiten umfasst. Der Generalstabschef der französischen Marine, Admiral Christophe Pratzuck, darf sich sogar Hoffnungen auf einen neuen Flugzeugträger machen. Kosten allein dafür: mindestens fünf Milliarden Euro.“[23]
Mit diesen Dimensionen kann Deutschland tatsächlich aktuell nicht dienen und holte sich deshalb nicht nur von französischer Seite, sondern auch von NATO-Generalsekretär Stoltenberg einen Rüffel ab: Zwar seien „die Kürzungen gestoppt“ worden, Deutschland bleibe aber dennoch weiter deutlich hinter den Erwartungen der Verbündeten zurück. Dass Deutschland die „Kürzungen gestoppt“ habe, trifft die Realität nicht einmal annähernd: Die Militärausgaben stiegen zwischen 2000 (rund 24 Mrd. Euro) und 2018 (38,5 Mrd.) kontinuierlich an. Und betrachtet man den Entwurf für einen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD wird sich hieran wohl auch nichts ändern: Ihm zufolge soll  der Militärhaushalt bis 2021 weiter auf mindestens 42,4 Mrd. erhöht werden. „Mindestens“, da in dem Papier zudem festgehalten wurde, dass etwaige Spielräume „prioritär“ dem Rüstungshaushalt (und der Entwicklungshilfe) zu Gute kommen müssen.[24]
Doch obwohl es sich hier um deutlich höhere Steigerungen handelte, als wohl in einer Jamaika-Koalition beschlossen worden wäre, wird derzeit systematisch versucht, eine Stimmung zu erzeugen, die zu noch  höheren Ausgaben beitragen kann. Kurz vor der Sicherheitskonferenz wurde etwa ein „geheimes“ internes Papier der Bundeswehr an die Presse durchgestochen – und zwar an Thorsten Jungholt, einem der wohl bundeswehraffinsten Schreiber in der deutschen Medienlandschaft. Das Papier belege die „Überforderung“ der Bundeswehr, es wurde in nahezu allen Medien prominent referiert und zumeist mit der „logischen“ Schlussfolgerung verknüpft, es müsse jetzt halt endlich deutlich mehr Geld für die Truppe her.[25]
Am Rande der Sicherheitskonferenz formierte sich auch die Rüstungslobby und stimmte wenig überraschend in den Aufrüstungschor mit ein: „Gibt Deutschland genügend Geld für die Bundeswehr aus? Darüber wird bei der Sicherheitskonferenz heftig diskutiert. Nicht nur die US-Vertreter fordern einen höheren Wehretat, Gegenwind bekommt die Bundesregierung auch von der Nato und der deutschen Rüstungsindustrie. Diese diskutierte am Rande der Sicherheitskonferenz auf Einladung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft darüber. […] Claus Günther vom deutschen Luftfahrtausrüster Diehl aus Nürnberg ist ein Freund deutlicher Worte: ‚Verteidigung kostet Geld und ohne Moos nix los, um das mal deutlich zu sagen.‘“[26]
Trump, Stoltenberg und andere werden dabei nicht müde, die – politisch nicht bindende – Absichtserklärung des NATO-Gipfels von Wales 2014, sich – ohne Angabe konkreter Zahlen – „in Richtung“ des Zwei-Prozent-Ziels zu bewegen, als feste Verpflichtung zu behandeln. Aktuell gibt Deutschland etwa 1,2 Prozent aus und die Formulierung im Entwurf des Koalitionsvertrages lässt reichlich Spielraum: Man wolle dem „Zielkorridor der Vereinbarungen in der NATO folgen.“ Was das genau heißen soll, dürfte  in der nächsten Zeit Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen werden. Ischinger formulierte einen möglichen „Kompromiss“: „Wir brauchen eine intakte Armee, um unseren Beitrag in Europa und der Nato leisten zu können. Dafür sollten wir bis Ende der Legislatur mindestens 1,5 Prozent des Bruttosozialprodukts für Verteidigung ausgeben“, forderte Ischinger. Die Nato selbst fordert von ihren Mitgliedern 2 Prozent des BIP.“[27]
In Zahlen hätte dieser Vorschlag für das Jahr 2017 einen Militärhaushalt von 49 Mrd. Euro statt der tatsächlich eingestellten 37 Mrd. zur Folge gehabt. Ein solcher „Kompromiss“ wäre zwar wohl ganz im Sinne der auf der Sicherheitskonferenz versammelten Vertreter aus Politik, Militär und (Rüstungs)Wirtschaft, nicht aber in dem der über 4000 Protestierenden  und auch nicht in dem der Mehrheit der Bevölkerung. So wurde kurz vor Konferenzbeginn über die neueste repräsentative Allensbach-Umfrage zum Thema berichtet: „[D]ie Bevölkerung [ist] nicht bereit, mehr Geld für die Soldaten auszugeben: Nur 27 Prozent sprechen sich für mehr Investitionen in Ausstattung und Verteidigung aus.“[28]
Anmerkungen
[1] Munich Security Report 2018: „To the Brink – and Back?“, Pressemitteilung o.J.
[2] Ischinger: Weltsicherheit so instabil wie vor dem Ende des Kalten Kriegs, Deutsche Welle, 16.2.2018.
[3] National Security Strategy, Washington, Dezember 2017.
[4] National Military Strategy, Washington, Januar 2018.
[5] Raymond McMaster: Rede auf der 54. Münchner Sicherheitskonferenz 2018.
[6] Sigmar Gabriel: Rede auf der 54. Münchner Sicherheitskonferenz 2018.
[7] Kagan, Robert: Die Demokratie und ihre Feinde, Bonn 2008, S. 7: „Die alte Rivalität zwischen Liberalismus und Autokratie ist neu entflammt, und die Großmächte der Welt beziehen entsprechend ihrer Regierungsform Position. […] Die Geschichte ist zurückgekehrt, und die Demokratien müssen sich zusammentun, um sie zu gestalten – sonst werden andere dies für sie tun.“
[8] Vgl. Galtung, Johan, Die andere Globalisierung. Perspektiven für eine zivilisierte Weltgesellschaft im 21. Jahrhundert, Münster 1998, S. 239.
[9] „Es war ein sorgsam überlegtes Signal des erfahrenen Diplomaten Wolfgang Ischinger, die von ihm organisierte Münchner Sicherheitskonferenz von Ursula von der Leyen (CDU) und Florence Parly eröffnen zu lassen, den Verteidigungsministerinnen Deutschlands und Frankreichs.“ So hat von der Leyens „Armee der Europäer“ wenig Chancen, Die Welt (16.2.2018).
[10] Ursula von der Leyen: Rede auf der 54. Münchner Sicherheitskonferenz 2018.
[11] Jean-Claude Juncker: Rede auf der 54. Münchner Sicherheitskonferenz 2018.
[12] Mit diesem Thema hat sich auch die Münchner Sicherheitskonferenz bereits im November 2017 mit intensiv in einem eigenen Bericht beschäftigt: „More European, More Connected, More Capable: Building the European Armed Forces of the Future“, November 2017.
[13] Juncker 2018.
[14] Die Emanzipation der EU, German-Foreign-Policy.com, 16.2.2018.
[15] To the Brink – and Back? Munich Security Report 2018.
[16] Gabriel 2018.
[17] Gabriel 2018.
[18] Defence Expenditure of NATO Countries (2010-2017), NATO, 29.6.2017.
[19] Zahlen nach Angaben von Military Balance 2018.
[20] Jens Stoltenberg: Rede auf der 54. Münchner Sicherheitskonferenz 2018.
[21] To the Brink – and Back? Munich Security Report 2018.
[22] Weitere militärrelevante Ausgaben sind auch noch in anderen Budgets versteckt, so dass die tatsächlichen Ausgaben noch höher liegen.  
[23] Zwei Frauen und ein Schreckgespenst, Die Welt, 17.2.2018.
[24] Siehe IMI-Standpunkt 2018/005.
[25] Internes Papier belegt Überforderung der Bundeswehr, Die Welt, 15.2.2018.
[26] „Rüstungsindustrie will höheren Wehretat“,  Bayerische Rundfunk, 16.2.2018.
[27] Top-Diplomat nennt vier Sicherheitsprobleme für Deutschland – und ihre Lösung, Focus.de, 15.2.2018.
[28] „Deutsche haben bedenkliches Bild von der Bundeswehr“, Die Welt, 15.2.2018.
 
Dieser Artikel von Jürgen Wagner ist erschienen am 19.02.2018 bei der Informationsstelle Militarisierung.
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