Seit Beginn des demokratischen Experimentes der Selbstverwaltung in der Gegend zwischen Afrin und Derik nach 2011 droht Recep Tayyip Erdogan mit dessen blutiger Zerschlagung. In zwei völkerrechtswidrigen Einmärschen – einmal im Herbst 2016 zwischen Jarablus und al-Bab; einmal in Afrin im Januar 2018 – annektierte die Türkei bereits syrisches Territorium, das sie bis heute besetzt hält. Doch um ihr erklärtes Ziel, die Zerschlagung aller kurdischen Milizen in der Region sowie die Vertreibung der kurdischen Zivilbevölkerung, zu erreichen, muss Ankara sich auch die verbleibenden Gebiete aneignen.
Die für den Angriffskrieg nötigen Streitkräfte sind bereits seit geraumer Zeit an der Grenze zusammengezogen. Er könne noch „heute oder morgen“ vorrücken, verkündete Erdogan am vergangenen Samstag.
Das Militärbündnis SDF (Syrisch-Demokratische Kräfte) sowie die zivilen Institutionen der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien versuchten in den vergangenen Monaten durch Zugeständnisse an die US-geführte Anti-IS-Koalition das Unvermeidliche noch hinauszuzögern. Die Überlegung war: Die USA werden die Errungenschaften im Kampf gegen den Islamischen Staat nicht den regionalen Annexionsbestrebungen Erdogans, des offenen Unterstützers aller dschihadistischen Gruppen in Syrien, opfern. Zudem kalkulierte man, dass die Widersprüche zwischen Ankara und Washington in der Region wie im internationalen Konflikt zwischen den USA und Russland groß genug seien, um mit ihnen zu spielen und durch kluge Diplomatie den Bestrebungen Erdogans einen Riegel vorzuschieben.
Die Rechnung ging einige Jahre lang auf. Aber die Strategie war immer ein Spiel auf Zeit. Es war immer zu erwarten, dass Trump an einem bestimmten Punkt nach dem Sieg über den IS die früheren kurdischen, arabischen, christlichen und assyrischen Partner dem Auslöschungswillen der Türkei übergeben würde. Das ist nun eingetreten.
Was wird jetzt passieren? Die Türkei wird einmarschieren. Wenn nicht heute, dann morgen, in einer Woche, in einem Monat. Sie wird mit deutschen Panzern einrücken, wie schon in Afrin. Es wird zu ethnischen Säuberungen kommen, Menschenrechtsverletzungen, zahllosen Toten. Die zehntausenden IS-Gefangenen, die sich in kurdischem Gewahrsam befinden, werden versuchen, sich zu reorganisieren. Die Region wird erneut destabilisiert.
Ob die regulären Truppen der SDF in der Lage sein werden, einen Vormarsch lange aufzuhalten, ist fraglich. Das Territorium ist gegen eine mit Luftwaffe ausgestattete Armee noch schwerer zu verteidigen als Afrin. Dennoch wird auch nach einer türkischen Besatzung keine Ruhe einkehren. Der Guerillakrieg gegen die Besatzer in Afrin dauert seit Monaten auf hohem Niveau an. Zudem führt die kurdische Guerilla HPG derzeit Aktionen im gesamten irakisch-türkischen Grenzgebiet sowie in der Türkei selbst durch. Mit dem Einmarsch wird der Krieg, den die Türkei gegen alle Kurden – auf eigenem, irakischem oder syrischem Gebiet – führt, ein neues Niveau erreichen.
Wie dieser Krieg ausgeht, ist völlig offen. Und die kurdischen sozialistischen Kräfte sowie ihre arabischen, türkischen und assyrischen Verbündeten stehen in ihm alleine. Die Türkei hat alle möglichen Deals durchgedrückt. Mit der NATO auf der einen, mit Russland und dem Iran auf der anderen Seite. Der diplomatische Spielraum scheint zumindest im Moment ausgeschöpft, der alte kurdische Spruch „Keine Freunde außer die Berge“ erweist sich ein weiteres Mal als angemessene Beschreibung der Wirklichkeit.
Mit einer Ausnahme: All jene internationalistischen Unterstützer*innen dieser Revolution müssen jetzt die Karten auf den Tisch legen. Wie viel sind wir in der Lage mit den geringen Kräften, die wir haben, dazu beizutragen, dass dieses Verbrechen nicht still und heimlich über die Bühne geht? Wie viel Druck können wir auf die deutsche Regierung ausüben, die Erdogan mit Waffen unterstützt und deren Gesandter, Innenminister Horst Seehofer, wohl bei einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen vor zwei Tagen grünes Licht aus Berlin für Erdogans Ansiedlungsplan von hunderttausenden Geflüchteten im Norden Syriens gegeben hat – samt Milliardenhilfen aus der EU.
Es ist jedenfalls nicht an der Zeit, die Köpfe zu senken und zu verzweifeln. Liberale Hilferufe an die USA sind dafür genauso schädlich wie der resignierte Rückzug. Unsere Freund*innen vor Ort werden kämpfen. Viele von ihnen werden fallen. Wir als Internationalist*innen müssen lernen, das als Verpflichtung zu sehen. Wenn es eine Maxime der kurdischen Revolution gibt, die auch wir zu lernen haben, dann ist es, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen – mögen sie auch noch so klein erscheinen.
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Achtet auf Ankündnigung es wird auch in Stuttgart Demos und Kundgebung zu dem Anlass geben.