Die diesjährige Mobilisierung zum 1. Mai war zwangsläufig beeinträchtigt durch die Pandemie-Situation. Noch stärker hat sich aber die andauernde Krisenentwicklung ausgewirkt. Der traditionelle Kampftag war in diesem Jahr sehr deutlich Ausdruck von ganz aktuellem Unmut über Politik und Wirtschaft, von aktuellen Protestbewegungen und der anwachsenden Bereitschaft von Menschen auch außerhalb der engen linken Szene für grundlegende Veränderungen auf die Straße zu gehen. Die Politisierung von größeren Teilen der Bevölkerung ist die Folge des katastrophalen Krisenmanagements des gesamten bürgerlichen Lagers. Den 1. Mai betrachten wir in diesem Zusammenhang auch als Gradmesser für die Fähigkeit, das Potenzial für revolutionäre Antworten und Praxis in die Breite zu tragen. Dass sich die Möglichkeiten dafür in der aktuellen Situation ausweiten:
– das sehen wir in den politischen Kämpfen gegen Faschisten und rechtsoffene Querdenker, den rassistischen Staat, gegen das alltägliche Patriarchat und die Klimakrise. Sie ereignen sich immer weniger in Nischen und in Szenen, sondern sind sichtbare Interessenskonflikte, die dort stattfinden, wo Gegenmacht aus unserer Klassen entstehen kann: Auf der Straße, im öffentlichen Raum und überall dort, wo Gegenwehr notwendig wird. Sie werden ausgetragen vor dem Hintergrund einer bürgerlichen Politik, in die nur die wenigsten derjenigen, die derzeit in Bewegung kommen, noch Erwartungen oder Hoffnungen setzen. Die starke Frauenkampf-Demo zum 8. März, die anhaltenden Proteste gegen Querdenken, die Demo und Solidaritätskampagne gegen Repression und für einen militanten Antifaschismus, der aktuelle Protest gegen Ausgangssperren – in Stuttgart gibt es einige Ansätze, die mehr als nur vereinzelte Signale sein können.
– das sehen wir auch in den Aktivitäten der Kolleg:innen in Betrieben, Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen. In den vergangenen Monaten gab es mit einigen stärkeren Protestmobilisierungen gegen Betriebsschließungen in der Region um Stuttgart, mit den Tarifrunden im öffentlichen Dienst und in der Metall- und Elektro-Industrie, aber auch mit immer wieder aufkommenden Protesten gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf einzelne Belegschaften einige Beispiele dafür, wie die Bereitschaft zur Aktivität sich schnell und unerwartet ausbreiten kann. In der solidarischen Unterstützungsarbeit, die einige Teile der klassenkämpferischen Linken in unserer Region im vergangenen Corona-Jahr aufgebaut haben, waren ein konsequenter Antikapitalismus und die Diskussion über den Aufbau von Gegenmacht der Arbeiter:innenklasse keineswegs fehl am Platz. Bei Betriebskundgebungen und Streik-Soli-Aktionen war Offenheit gegenüber revolutionärer Politik und ein klares Verständnis von Solidarität verbreitet.
Am diesjährige 1. Mai konnte dem zumindest in Ansätzen Rechnung tragen. Die klassenkämpferische und revolutionäre Linke in Stuttgart hat versucht an die vorhandenen Potenziale anzuknüpfen:
Antikapitalistische Beteiligung
Nachdem der DGB im vergangenen Jahr die 1.Mai Demonstration aufgrund der Pandemie abgesagt hatte, war es dieses Jahr den Regionen selbst überlassen ob sie eine Demonstration machen. Mit der breit angelegten Mobilisierung „Am 1. Mai auf die Straße!“ haben einzelne Kolleg:innen aus Betrieben und Gewerkschaften aus Stuttgart und Region, aktive Betriebsgruppen, das „Aktionsbündnis 8. März“ und die Initiative „Solidarität und Klassenkampf“ schon frühzeitig festgeklopft, dass es eine gemeinsame antikapitalistische Straßenpräsenz am 1. Mai geben soll. Und das lange bevor feststand, inwieweit der DGB sich dazu bereit erklären würde, trotz Pandemie eine Demonstration oder Kundgebung zu organisieren. Es gab gemeinsam organisierte Flyerverteilaktionen mit Kolleg:innen vom Krankenhaus Rems-Murr Klinikum, vom Automobilzulieferer Lear in Ottmersheim und von Bosch in Bietigheim.
Schlussendlich hat sich der DBG, nach einem hin und her, entschieden in Stuttgart eine Demonstration zu organisieren. Die Demonstration war mit mehreren Tausend Teilnehmer:innen trotz des vom Ordnungsamt kurzfristig angeordneten Wechsels des Auftaktortes, stark besucht. Ein Zeichen dafür, dass die proletarischen Antworten auf Krisensymptome – auch gewerkschaftliche – in Straßenpraxis zu finden sind. Online-Formate, wie das den Kolleg:innen im vergangenen Jahr vom DGB aufgezwungen wurde, können das nicht ersetzen.
Die Initiative mobilisierte mehrere hundert Teilnehmer:innen auf einen antikapitalistischen Bereich, bei dem sich schon im Vorhinein eine stärkere betrieblichen Beteiligung abzeichnete, als noch in den vergangenen Jahren. Das Neue und das Besondere an der diesjährigen Beteiligung war, dass die Kolleg:innen mit ihren berufsspezifischen Anforderungen und Kampffeldern mobilisierten und das eben auch in Kreisen, die bisher nicht von gewerkschaftlichen oder linken Mobilisierungen angesprochen wurden. Mit eigenen Videostatements haben sie die Situation ihrer Berufsgruppen aufgegriffen, um ihre Kolleg:innen zu erreichen und die eigentliche Bedeutung des 1. Mai hervorzuheben. Das gemeinsame Klassenverständnis hat sich mit der Vielfältigkeit auch auf der Straße widergespiegelt. Die antikapitalistisch-feministische Mobilisierung des Aktionsbündnisses bildete den vorderen Teil des Bereichs.
Revolutionäre Demo
Nach der DGB Demo kamen etwa 1000 Menschen auf der revolutionären 1.Mai Demonstration zusammen. Klimaaktivist:innen, kurdische Jugendliche, Frauen*, migrantische Strukturen, Kolleg:innen aus verschiedensten Betrieben und Kommunist:innen zogen gemeinsam durch die Stadt und machten klar, dass revolutionäre Gegenmacht, ein Bruch mit dem Kapitalismus und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft notwendig und möglich sind.
Zum Auftakt in der Innenstadt gab es eine Rede von „Solidarität und Klassenkampf“ zur Bedeutung betrieblicher Kämpfe und Solidarität für eine antikapitalistische Bewegung. Zudem gingen kommunistischen Frauen* auf die doppelten Unterdrückung der Frau* im Kapitalismus und ihre unabdingbare Rolle im revolutionären Aufbau ein. Die letzte Rede zum Auftakt wurde von einem Vertreter der Klimagerechtigkeitsbewegung gehalten und hatte die Notwendigkeit des Bruchs mit dem Kapitalismus im Kampf um Klimagerechtigkeit im Fokus.
Zum Start der Demo wurde über dem gesamten vorderen Block ein Toptransparent entrollt. Roter Rauch und der thematische Bezug zum historischen 1.Mai vor 135 Jahren sorgte für eine partizipative Choreografie. Sie machte vor allem klar, dass wir uns der Geschichte der Arbeiter:innenklasse, unserer Geschichte, bewusst sind. Eben diese Geschichte hat uns gezeigt, dass Verbesserungen nur gegen die Herrschenden, durch Klassenkampf und Revolution erreicht werden können. Auf Höhe des Landgerichtes wurde ein Hochtransparent in Solidarität mit den vor einigen Tagen in Frankreich verhafteten Militanten der Brigate Rosse aufgespannt und in Duchsagen auf die Zwangsläufigkeit von Repression, Klassenjustiz und unserer Verantwortung im Kampf dagegen eingegangen.
Bei der Zwischenkundgebung am türkischen Konsulat ging ein Redner der Antifaschistischen Aktion (Aufbau) Stuttgart auf die Wichtigkeit linker, antifaschistscher Deutungshoheit auf der Straße ein. Durch einen Beitrag von „Vereinigter revolutionärer Kampf“, einem Bündnis revolutionärer Organisationen aus der Türkei und Kurdistan, die sich gemeinsam im Kampf gegen den faschistoiden türkischen Staat organisieren, wurde ein internationalistischer Ausdruck ergänzt und aufgezeigt, dass unser Kampf und unsere Solidarität nicht an Ländergrenzen aufhören. Im Anschluss wurden in der gesamten Demo hunderte kleine Fahnen der YPG und der YPJ hochgehalten, ergänzt durch PKK-Fahnen und gelben, grünen und roten Rauch.
Zum Abschluss stoppte die Demo unangekündigt auf einer größere Kreuzung am Stöckach im Stuttgarter Osten, um eine selbstbestimmte Abschlusskundgebung abzuhalten. Nach Ende der Demonstration hielt eine Genossin von uns vermummt eine Rede, die wir zum Nachlesen unten angehängt haben. Die Rede wurde von einer Transparentaktion an einer Hausfassade am Rande begleitet. Die Aufschrift „365 Tage Klassenkampf, Revolution, Sozialismus“ wurde mit rotem Rauch und Feuerwerk unterstrichen.
Fest am Marienplatz
Im Anschluss fand auf dem Marienplatz im Stuttgarter Süden eine gemeinsame Kundgebung verschiedener politischer Treffen und Strukturen und dem Linken Zentrum Lilo Herrmann unter dem Motto „Unser Platz!“ statt. Statt wie in den Jahren bis 2019 nach den Demos am 1. Mai beim „Internationalistischen Fest“ im Zentrum, fand die Möglichkeit für weitere Einblicke in verschiedene Bereiche aktiver linker Politik in Kombination mit Kulturbeiträgen in diesem Jahr pandemiebedingt unter freiem Himmel statt. Der einsetzende Regen ließ keinen längeren Ausklang zu. Das gekürzte Programm bestand dennoch immerhin aus einem Quiz vom Aktionstreffen Klimagerechtigkeit, einem Straßentheater zu den Machenschaften von Heckler und Koch in Mexiko vom „Offenen Treffen gegen Krieg und Militarisierung“. Hinzu kamen Reden der Initiative 0711 United, die sich gegen den alltäglichen Rassismus von Bullen und Behörden engagiert und vom Aktionsbündnis 8. März, sowie ein von der Roten Hilfe Stuttgart organisierter Platzrundgang mit verschiedenen Stationen zu aktuellen Repressionsfällen. An mehreren Infoständen gab es darüberhinaus weitergehende Materialien zu den Kampffeldern, ihren aktuellen Kampagnen und vertiefende Veröffentlichungen.
Zur Mobilisierung
Wir haben einen Schwerpunkt in der Mobilisierung zum 1. Mai auf gemeinsame Elemente in einer bundesweiten Kampagne der Perspektive Kommunismus unter dem Motto „Für eine Zukunft ohne Krisen! Klassenkampf, Revolution, Sozialismus!“ gelegt. Die in diesem Rahmen veröffentlichte und in einigen Städten verbreitete alljährliche Maizeitung wurde in der Region um Stuttgart tausendfach vor Werken, Schulen und Krankenhäusern verteilt. Lokal haben Genoss:innen aus verschiedenen Strukturen darüberhinaus mit kreativen Mobilisierungsaktionen, Plakatierungen und Propaganda-Ausflügen in proletarische Stadtteile für eine gewisse Präsenz der Mobilisierung in der Stadt gesorgt.
Im Anschluss an die revolutionäre Demo sind einige Genoss:innen dem Aufruf gefolgt nach Waiblingen zu fahren, um sich dort an der roten 1. Mai Demo zu beteiligen – als Signal gegenseitiger Unterstützung und um gerade am 1. Mai eine gemeinsame Praxis in der Region zu schaffen. Im Folgenden veröffentlichen wir den Bericht, Bilder und die gehaltene Rede von den Genoss:innen vor Ort:
Roter 1. Mai in Waiblingen
Der DGB Rems-Murr entschied sich wie bereits im letzten Jahr die 1.Mai Demonstration in Waiblingen abzusagen und nur eine Kundgebung zu veranstalten. Eine Initiative verschiedener linker Organisationen und Gewerkschaftsstrukturen entschied sich deshalb im Anschluss an die Kundgebung eine rote 1.Mai Demonstration zu organisieren. Im Vorfeld der Demonstration fanden viele Plakate den Weg ins Stadtbild und auch ein korrupter CDU-Politiker erhielt Besuch von Aktivist:innen. Im direkten Anschluss an die DGB-Kundgebung startete die Rote 1. Mai-Demonstration mit etwa 100 Personen durch die Waiblinger Altstadt, angeführt von einem lautstarken revolutionären Frontblock in einheitlich roten Schlauchtüchern, gefolgt von Kolleg:innen aus Metallbetrieben, dem Pflegebereich und der Gewerkschaftsbewegung. Diese führten teilweise eigene Transparente und Schilder, sowie Gewerkschaftsfahnen mit sich.
An der ersten Zwischenstation am Alten Postplatz schrieben Einige Aktivist:innen an einer wegen des Freizeitlockdowns abgesperrten Treppe auf vorbereitete Schilder Vorschläge zu einer sinnvollen Pandemiebekämpfungsstrategie auf. Es ist kein Geheimnis, dass die Bundes- und Landesregierungen den Profit der Großkonzerne über Menschenleben stellen, während gleichzeitig die Arbeiter:innen in der Gastronomie, dem Kulturbereich oder im Einzelhandel im Regen stehen gelassen werden. Ganz zu schweigen von der Situation der Pflegekräfte, die durch die Pandemie enormen Mehrbelastung ausgesetzt sind.
Die Demonstration zog weiter an der Deutschen Bank vorbei, auf deren Fassade Hammer-Sichel-Symbole und „Krisenprofiteure angreifen“ zu sehen waren. Dazu wurde im Frontbereich roter Rauch gezündet. Die dritte Station bildete das Amtsgericht Waiblingen, an dessen Fassade verschiedene Schilder in Solidarität mit verfolgten linken und revolutionären Kräften angebracht wurden: Roter Aufbau Hamburg; die AntifaschistInnen Jo, Dy, Lina; PKK; Brigate Rosse. Dazu stieg ein die Parole „Gegen ihrer Klassenjustiz“ an einem mit Luftballons befestigten Transparent in den Waiblinger Himmel.
Auf Höhe des Bahnhofs führten kommunistische Frauen eine Plakataktion durch. Obwohl die Bullen eingriffen und versuchten sie abzuhalten, ließen die Genossinnen sich nicht beirren und konnten die Aktion vollständig durchführen. Auf den Plakaten waren die Genossinnen Clara Zetkin, Angela Davis, Ivanna Hoffmann und eine Aktivistin mit roten Schlauchtuch abgebildet. Dazu die Parole: „Damals wie heute – Frauenkampf heißt Klassenkampf!“
Am Abschlussort der Demo angekommen, wurde sie selbstbestimmt aufgelöst, woraufhin noch eine Rede von Revolutionären verdeckt gehalten wurde. Parallel zur Rede wurde noch ein mit Folie umwickelter Stern mittels Rauch rot gefärbt. Die Rede hängt unten an.
Fazit:
Der diesjährige erste Mai stellte vor allem in seinem geschlossenen Auftreten und der Kreativität in den Aktionen eine Steigerung dar. Ebenso erfreulich ist die Beteiligung Stuttgarter Genoss:innen auf der Demo, welche die Wichtigkeit einer solidarischen Zusammenarbeit linker Strukturen von Stadt und Umland nach vorne trieb. Nun gilt es das Kräftepotential der Demo zum 1. Mai in den kommenden Tageskämpfen zu festigen und zu erweitern – für unsere Klasse.